Manche einfachen Fragen sind schwer zu beantworten. So die Frage: Wem gehört eigentlich Amazonien? Sie führt direkt in das schwierige Gelände der Landfrage in Amazonien oder, wie es auf Portugiesisch heißt, der questão fundiária. Alle, die sich mit Brasilien beschäftigen, lernen schnell, dass dies eine ganz wichtige Frage ist, die aber kaum zu überschauen, geschweige denn zu lösen ist. Wie in alten Palimpsesten legen sich Schichten von Dokumenten über viele Landstriche in Amazonien, so dass man oft von mehreren Etagen von Ansprüchen an Land spricht.
Neue Aktualität hat die questão fundiária durch die internationale Diskussion um die richtige Strategie zur Reduzierung von Entwaldung erhalten. Längst ist die Zerstörung des Amazonasregenwaldes zu einem globalen Desaster geworden, beobachtet von einer aufmerksamen und kritischen Öffentlichkeit. Entwaldung ist nicht mehr eine lokale Entwicklung, sondern ist ein wichtiger Faktor der beiden globalen Krisen, die die Lebensgrundlage der Menschheit zu zerstören drohen: der sich zuspitzenden Klimakrise und des dramatischen weltweiten Verlustes von Biodiversität. Ist man sich – zumindest international – weitgehend einig, dass die Entwaldung so schnell wie möglich gestoppt werden muss, so bleibt doch die Frage umstritten, wie das denn gelingen kann. Lange Zeit richtete sich die Aufmerksamkeit auf die Viehwirtschaft als dem wichtigsten Treiber von Entwaldung. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass auf mindesten zwei Dritteln der entwaldeten Flächen Rinderweiden angelegt sind. Einige Forscher:innen weisen aber schon seit längerem darauf hin, dass am Anfang der Entwaldung die Aneignung von Land – zu welchem Zweck auch immer – steht.
In einer sehr lesenswerten Reportage über Amazonien zitiert der Filmemacher João Moreira Salles einen Forscher aus Princeton (Michael Oppenheimer), der nach einer langen Debatte ausruft: „Endlich habe ich die Logik der Eroberung Amazoniens verstanden. Es geht nicht um das Rind, es geht um Land.“ − „Es ging immer um Land“, fügt Moreira Salles hinzu. Andere hatten schon seit längerem die Logik der Aneignung von Land in den Mittelpunkt der Analysen gestellt, allen voran Maurício Torres und seine Mitautor:innen mit der wichtigen Publikation „Dono é quem desmata“ – Wer entwaldet, ist der Herr des Landes. Eine andere bedeutende Publikation von Maurício Torres liegt nun in gekürzter Fassung auf Deutsch vor: „Landraub in Amazonien für Anfänger. Die private Aneignung von Land für den Waldschutz“.
Die hier vorliegende Publikation soll nun diese Debatte fortführen, aktualisieren und erweitern. Dabei geht es zentral um ein Instrument, das als Umweltinstrument im neuen Waldgesetz (código florestal) 2012 eingeführt wurde, aber umstritten ist: das sogenannte Umweltkataster für den ländlichen Raum, CAR – Cadastro Ambiental Rural. Dieses sieht vor, den Waldschutz bei Waldflächen im Privatbesitz sicherzustellen, indem satellitengestützt überwacht wird, dass 80% der Fläche jedes Privatbesitzes mit Wald bedeckt ist oder entsprechend wieder aufgeforstet wird. Während Befürworter:innen mit dem Instrument große Hoffnungen auf eine effektive Bekämpfung der Entwaldung verbinden, befürchten Kritiker:innen, dass es missbraucht wird, um Landraub zu legalisieren. In der vorliegenden Publikation bilden wir diese Diskussion ab: Nach einer kurzen Einführung in die komplexe Gemengelage der questão fundiária von Thomas Fatheuer (Kapitel 2), diskutieren drei Beiträge das Thema Landraub und Entwaldung im brasilianischen Amazonasgebiet mit einem besonderen Fokus auf verschiedene Aspekte des Umweltkatasters CAR (Kapitel 3). Maurício Torres ordnet CAR in die Geschichte der grilagem ein und zeigt an dem Beispiel eines indigenen Territoriums, wie CAR für Versuche der Aneignung von Land genutzt wird. Jan Börner argumentiert, dass trotz aller Probleme CAR ein wichtiges Instrument zum Waldschutz werden kann. Eliane Moreira legt dar, wie die brasilianische Staatsanwaltschaft (ministério público) versucht, dem Missbrauch von CAR zu begegnen.
Doch in der aktuellen Debatte um Amazonien geht es nicht nur um die alten Praktiken des Landraubs mit modernen Methoden, sondern auch um neue Ansätze zur „Inwertsetzung“ der Region. Dabei hat das Versprechen einer „Bioökonomie“ neue Zentralität erlangt, obgleich diese nur unscharf definiert bleibt. Entsprechend ausführlich diskutieren deshalb Maria Backhouse und Thomas Fatheuer die Möglichkeiten und Fallstricke der Konzepte einer Bioökonomie in Amazonien (Kapitel 4).
Alternativen zu diesen Ansätzen der Inwertsetzung von außen existieren, sie werden insbesondere von indigenen Völkern in die nationalen und internationalen Debatten eingebracht. Einen kurzen Blick auf diese Alternativen wirft das Schlusskapitel.
Inhalt
1. Einleitung 4
2. Die Logik der Eroberung – Ein kleiner Wegweiser durch die Landfrage in Brasilien 5
Thomas Fatheuer (FDCL)
3. Die Debatte um die Landordnung in Amazonien 9
3.1 Landraub und Entwaldung im brasilianischem Amazonasgebiet 9
Maurício Torres (Staatliche Universität von Pará – UFPA, Belém )
Cândido Neto da Cunha (Brasilianische Agrarreformbehörde – Incra, Santarém)
Natalia Ribas Guerrero (Staatliche Universität von São Paulo -USP)
3.2 Risiken und Nebenwirkungen des brasilianischen Umweltkatasters (CAR) 14
Jan Börner (universität Bonn)
3.3 Missbrauch von CAR – Was tun? 15
Eliane Moreira (Staatsanwältin, Ministério Público Estadual, Pará)
4. Bioökonomie in Amazonien – Eine alternative Inwertsetzung? 17
Maria Backhouse (Friedrich-Schiller-Universität Jena) / Thomas Fatheuer (FDCL)
5. Alternativen sind machbar: Indigene Rechte stärken statt Agrobusiness fördern! 23
Maria Backhouse (Friedrich-Schiller-Universität Jena) / Thomas Fatheuer (FDCL)
6. Weitere Lektüre 25
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Redaktion: Laura Mohacsi (BioInequalities, Universität Jena), Jan Dunkhorst (FDCL)
Titelbild: Landnahme im Regenwald
Foto: Mauricio Torres
Layout: Ingrid Navarrete | www.ingrid-navarrete.de
Druck: Hinkelsteindruck, 10997 Berlin
Redaktionsschluss: 20.12.2021
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