Der Verlust der Biodiversität ist die wichtigste globale Bedrohung, nicht der Klimawandel. Das sagen wenigstens die Forscherinnen und Forscher des Stockholmer Resilience Center. Das von ihnen entwickelte Modell der planetarischen Grenzen (global boundaries) ist die wohl im Augenblick populärste Systematisierung globaler Prozesse.
Tatsächlich sind die Befunde zur Biodiversität bestürzend: Arten verschwinden mit einer so großen Schnelligkeit, dass die Forscherinnen und Forscher von einem sechsten großen Massensterben in der Geschichte der Menschheit sprechen. Nur dieses mal ist es keine erdgeschichtliche Katastrophe sondern eine Auslöschung, die durch den Menschen und seine Produktions- und Lebensweisen verursacht wird. Die Auswirkungen dieses Prozesses sind völlig ungewiss. Klar ist, dass sie die Grundlagen des Lebens auf dem Planten berühren: überquellende Vielfalt ist Basis und Erfolgsrezept der Evolution. Die „Rivet Hypothese“ soll dies verdeutlichen: wir verhalten uns wie jemand, der munter Kleinteile (Nieten – rivets) eines Flugzeuges entfernt und versichert, es fliege auch ohne diese Teile weiter – doch irgendwann geht das nicht mehr gut.
Mit der eindringlichen Analyse und den alarmierenden Zahlen korrespondiert weder eine adäquate allgemeine Wahrnehmung noch eine politischen Agenda. Wir wissen sehr viel und handeln sehr wenig. Alle reden vom Klima, so ließe sich die Lage zuspitzen. Tatsächlich ist der Klimawandel in das allgemeine Bewusstsein geradezu eingehämmert worden und hat, wenn auch unzureichend und widersprüchlich, den politischen Mainstream von Argentinien bis Zypern erreicht, sogar Nordkorea ist braves Mitglied der Klimarahmenkonvention (UNFCC). Globale Umweltpolitik gleicht immer mehr einem Kreuzzug gegen CO2, dem ausgemachten Umweltschurken Nr.1.
Gegenüber der Aufmerksamkeit für das Klima hat es die Biodiversitäts-Community schwer, und Klagen gehören zum Alltag, beleben aber auch nicht das Geschäft. Es kann nicht darum gehen, in einen Wettkampf um das größere Übel einzutreten. Forschungen wie die des Stockholmer Resilience Center legen einen zentralen Schluss nahe: die globale Umweltkrise ist multidimensional und muss als solche wahrgenommen und politisch angegangen werden. Hier liegt die aktuelle Gefahr in dem Überborden des Klimadiskurses. Die Klimadominanz hat sicherlich damit zu tun, dass Klimapolitik viel unmittelbarer mit großen Wirtschaftsinteressen verbunden ist und von vielen Akteuren als Element einer „grünen“ Modernisierung aufgegriffen wird, mit der sich auch neue Geschäftsfeldern erschließen lassen.
So berechtigt die Sorge um den Klimawandel ist, so gefährlich kann seine Dominanz werden. Sie kann den Weg für zweifelhafte Technologien öffnen und alles mit dem Kampf gegen den Klimawandel rechtfertigen. Gegenüber der stringenten und popularisierten Narrative des Klimawandels hat es die Debatte um Biodiversität nicht einfach, aber sie bringt eine notwendige Komplexität in die Auseinandersetzung um globale Umweltpolitik.
Aber auch die Biodiversität kennt populären Erzählungen: die Bedrohung der Elefanten, der Orang Utangs oder anderer „charismatischer Arten“ ist in den Bildern der großen Naturschutzorganisationen präsent. Und so ist im allgemeinen Bewusstsein die Verbindung von Biodiversität mit dem Schutz der Natur dominierend. Dies beeinflusst auch die Wahrnehmung der Biodiversitätskonvention CBD, die zusammen mit der Klimakonvention und der sogenannten Wüstenkonvention UNCCD (United Nations Convention to Combat Desertification) das Trio der Rio Konventionen der UN bildet.
Aber bei der CBD geht es um viel mehr als um die Erhaltung von Natur und Arten, es ist eine komplexe Konvention, die den Zugang zu „genetischen Ressourcen“ regulieren will und mit diesem zweifelhaften Begriff schon ein folgenreiches Paradigma verbreitet. Bei der CBD geht es auch um die vom Menschen umgestaltete Natur. Menschen haben Natur systematisch durch Züchtungen für ihre Zwecke beeinflusst und damit auch eine Form von Biodiversität geschaffen. Diese menschliche Umgestaltung der Natur wird durch Gentechnik radikalisiert und fundamental geändert. Durch die Gentechnik wird menschlich gestaltete Natur nicht nur zur Handelsware, sondern Saatgut, Pflanzen und sogar Tiere werden patentierbar und monopolisierbar. Das ist ein tiefgreifender Prozess, der die gesellschaftlichen Naturverhältnisse fundamental umgestaltet – und daher für aktuelle (entwicklungs)politische Debatten eminent wichtig ist.
Wir sind mitten in diesem Prozess und in den damit verbundenen politischen Disputen. Nicht zufällig ist Gentechnik zu einem großen Streitthema geworden. Weil es bei Biodiversität also nicht nur um Erhaltung der Natur geht, sondern auch und gerade um Aneignung von Natur, halten wir die Auseinandersetzung mit dem Thema für fundamental. Die sozialen und ökologischen Konflikte um Landnutzung sind zutiefst verbunden mit der Frage nach der Aneignung von Natur.
Die CBD ist auch ein zentraler Ort für eine weitere wichtige Debatte über das Verhältnis zur Natur. Ökonominierung und Monetarisierung von Naturleistungen werden als Zukunft einer neuen Naturpolitik angesehen. Dieser Ansatz hinterlässt in der CBD seine Spuren, bleibt aber höchst umstritten.
Die CBD greift diese komplexen Fragen auf – das ist ihr Verdienst, sie kann sie freilich nicht lösen. Aber die CBD ist ein wichtiges internationales Forum für die Debatte um diese Fragen geworden sowie ein Ansatzpunkt für Regulierung. Bei aller Begrenztheit von UN-Konventionen gehen wir also davon aus, dass die Auseinandersetzung mit Biodiversität und der CBD von großer paradigmatischer wie praktischer Bedeutung ist. Leider haben viele entwicklungspolitisch orientierte Gruppen der Zivilgesellschaft dies aus den Augen verloren und die Begleitung der CBD vor allem einigen wenigen großen Umweltorganisationen überlassen. Wenig hilfreich war auch, dass insbesondere die Debatte um gerechten Zugang zur Biodiversität, unter dem populären Stichwort „Biopiraterie“ geführt, im Kontext der CBD zu einer hochkomplexen und schwer verdaulichen Spezialdebatte geriet, der bald nur noch wenige folgen konnten oder wollten.
Mit dieser, in das komplexe Themenfeld einführenden Publikation möchte das Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL) gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung versuchen, die zentrale entwicklungspolitische Bedeutung der Auseinandersetzung um Biodiversität zu verdeutlichen. Dabei geht es nicht um eine systematischen Aufarbeitung der vielen Arbeitsfelder der CBD – wir sind bewusst selektiv, weil wir zwei zentrale und aktuelle Konfliktfelder aufgreifen und darstellen wollen:
Die Auseinandersetzung um einen ökonomischen Ansatz im Naturschutz und die neuen, radikalen Formen der Gentechnologie. Beide Themenkomplexe werden auf der anstehenden CBD-Konferenz im Dezember 2016 Cancún, Mexiko, eine wichtige Rolle spielen. Auch ist die kritische Auseinandersetzung mit diesen Fragen Gegenstand einer – dringend notwendigen – Mobilisierung zivilgesellschaftlicher Akteure im Globalen Süden wie im Norden geworden.
Ein kurzer, einleitender Überblick zur Entstehung und Geschichte der CBD soll den Kontext dieser aktuellen Debatten verdeutlichen, die Widersprüche der CBD aufzuzeigen und Einflussmöglichkeiten ausloten. Die Publikation richtet sich nicht an CBD-Spezialistinnen und Spezialisten, sondern soll gerade denen, die die Debatte um Biodiversitätspolitik und die CBD nicht intensiv begleitet haben, einen aktuellen Einstieg ermöglichen.
Zur Kampagne „Hands on the Land for Food Sovereignty“
Inhalt
Einleitung 6
1 Wie alles begann 8
Biodiversität – die erstaunliche Karriere eines Begriffs 8
Rio 1992 – die Geburt einer Konvention 9
Die CBD und das Vorsorgeprinzip 12
2 Konzeptionelle Baustellen 14
Dienstleisterin Natur: der Ökosystemansatz 14
Naturkapital – die ökonomische Wende beim Schutz der Biodiversität 15
3 Meilensteine der Entwicklung der Konvention 17
Von Rio nach Cartagena 17
Von Cartagena nach Nagoya 18
CBD mischt sich ein: „new and emerging issues“ 20
4 Auf dem Weg nach Cancún:
Streitthema Synthetische Biologie 22
CRISPR – die Genschere 22
Synthetische Biologie: auf dem Weg zu einer neuen Natur 23
Synthetische Biologie und die CBD 25
5 Mainstreaming Biodiversity oder die Suche nach der zählbaren Natur 27
6 Wem gehört die Natur – geistige Eigentumsrechte, Landwirtschaft und Biodiversität 30
7 Die CBD – ein umkämpftes Terrain 32
Literaturhinweise 34
Impressum
Herausgeber:
Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika e. V. – FDCL
Gneisenaustraße 2a, D -10961 Berlin, Germany
Fon: +49 30 693 40 29 / Fax: +49 30 692 65 90
E-Mail: info@fdcl.org / Internet: www.fdcl.org
Die Publikation wurde erstellt in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung (www.boell.de)
Autor: Thomas Fatheuer
Lektorat: Lili Fuhr (Heinrich-Böll-Stiftung), Jan Dunkhorst, Stefanie Wassermann
Titelbild: Streetart in Oaxaca/Mexiko | Jen Wilton (c BY-NC 2.0)
Layout: STUDIO114.de | Michael Chudoba
Druck: 15 Grad | Zossener Straße 55 | 10961 Berlin
Gedruckt auf 100% Altpapier aus CO2 neutraler Produktion (Envirotop).
Gefördert von Engagement Global im Auftrag des BMZ und mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union.
Für den Inhalt dieser Publikation ist allein das FDCL e. V. verantwortlich; die hier dargestellten Positionen geben weder den Standpunkt von Engagement Global gGmbH und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung noch der Europäischen Union wieder.
Diese Broschüre ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht-kommerziell – Weitergabe unter
gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz (CC BY-NC-SA 4.0).
copyright: FDCL-Verlag Berlin, 2016 | ISBN: 978-3-923020-72-0