Der noch amtierende Präsident Brasiliens Jair Bolsonaro missbraucht auf Staatskosten den brasilianischen Nationalfeiertag als Wahlkampfveranstaltung. Auch seine Anhänger*innen klammern sich an die Vorstellung, dass der Wahlsieg als sicher gilt. Eine Niederlage kann in ihren Augen nur eine Fälschung sein. In Amazonien sehnen indessen die Aktivist*innen der sozialen Bewegung eine Ende der Regierung Bolsonaro herbei.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Webseite der Heinrich-Böll-Stiftung. Mit freundlicher Genehmigung übernommen von: FDCL
Von Thomas Fatheuer
Die Esplanade der Ministerien in Brasília erstrahlte am 7. September in gelb und grün: etwa hunderttausend Menschen tragen T-Shirts in den Nationalfarben. Brasilien feiert 200 Jahre Unabhängigkeit. Aber fast niemand ist wegen des nationalen Feiertags gekommen, denn Bolsonaro hat den 7. September als Auftakt des Endspurts seines Präsidentschaftswahlkampfs umgewidmet. Der amtierende Präsident hat in den vorangegangenen Tagen seine verbalen Attacken gegen die Justiz wieder einmal radikalisiert. Viele befürchteten gewaltsame Ausschreitungen, zu denen es zum Glück nicht kam. Bolsonaro gelang es aber in den Städten Brasília, Rio de Janeiro und São Paulo zum Nationalfeiertag deutlich mehr Menschen auf die Straße zu bringen als im Vorjahr. Er kann nun mit diesen Bildern werben.
Bolsonaro braucht solche Erfolge dringend. Denn weniger als drei Wochen vor dem ersten Wahlgang am 2. Oktober liegt sein Herausforderer Luiz Inácio Lula da Silva bei allen Umfragen deutlich vorn. Dem angesehenen Umfrageinstitut Datafolha zufolge würden zwei Tage nach dem siebten September 45 Prozent für Lula und 34 Prozent der Wähler*innen für Bolsonaro stimmen. Der Abstand zwischen den beiden hat sich in den letzten Monaten zwar verringert, aber es gilt nach wie vor als unwahrscheinlich, dass Bolsonaro Lula bis zum 2. Oktober noch einholen kann. Denn ein Ergebnis bleibt in den Umfragen seit Monaten konstant: 51 Prozent der Wähler*innen erklären, dass sie auf keinen Fall Bolsonaro wählen werden. Ein Sieg von Lula im ersten Wahlgang gilt aber ebenfalls als unwahrscheinlich, so dass die Entscheidung wohl erst in der Stichwahl am 30. Oktober fallen wird. Dieses Szenario wollte die Opposition eigentlich vermeiden, weil es mehr Raum gibt, das Wahlergebnis anzuzweifeln. Denn das ist die große Frage, die im Raum steht: Wird Bolsonaro einen Wahlsieg Lulas akzeptieren? Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass er dies nicht tun wird. Allerdings ist auch unwahrscheinlich, dass die Militärs ihn durch einen klassischen Militärputsch unterstützen würden. Ein Militärputsch würde Brasilien in die internationale Isolation führen, das hat insbesondere die US-Regierung in den letzten Wochen mehrmals klar gemacht.
Am 7. September forderte die große Anzahl der Bolsonaro-Fans auf ihren gelben T -Shirts auf Englisch: „Clean Elections“. In Brasilien wird elektronisch gewählt. Das Verfahren galt immer als sicher und zuverlässig. Aber Bolsonaro säht nun zunehmend wirkungsvolle Zweifel an diesem Verfahren. Wenn man mit Bolsonaro Anhänger*innen spricht, überrascht die immer wieder geäußerte felsenfeste Überzeugung, dass Bolsonaro natürlich im ersten Durchgang gewählt werde. Die Umfragen werden als Fälschung der „Lügenpresse“ abgetan. In der Blase der Bolsonaristas gilt der Wahlsieg ihres Präsidenten als sicher. Damit festigt sich die Überzeugung jedes andere Wahlergebnis als Fälschung anzusehen. Die simple Forderung nach „sauberen Wahlen“ wird somit zum Baustein der Strategie, legitime Wahlen anzuzweifeln. Die Lage bleibt angespannt.
Angst und Hoffnung in Amazonien
Das spüren besonders die Menschen, die in sozialen Bewegungen engagiert sind. „Eine zweite Amtszeit von Bolsonaro würde ich nicht aushalten“, sagt Ivete Bastos. Ein Satz, den man in diesen Tagen oft hört. Ivete ist Präsidentin der Gewerkschaft der Landarbeiter*innen in Santarém (STTR), mitten in der Amazonasregion. Die Mitglieder der Gewerkschaft sind in der Regel Kleinbäuer*innen, viele leben in traditionellen Gemeinschaften, andere sind im Zuge der Agrarreform angesiedelt worden. In Santarém, wo der Tapajós-Fluss in den Amazonas mündet, bündeln sich alle Konflikte der Amazonasregion. Die einst malerische Hafenpromenade wird nun durch riesige Silos von Cargill überragt. Der US-Konzern hat hier einen Hafen gebaut, um Soja nach Europa und China zu verschiffen. Über den Rio Tapajós zieht eine unendliche Karawane von Schiffen, die Soja von Itaituba nach Santarém transportieren. In Santarém ist greifbar, wie Soja eine ganze Region verändert.
Aber es ist nicht nur Soja. Am Oberlauf des Tapajós wächst der illegale Goldabbau und vergiftet Fluss und Fische mit Quecksilber. Die Fische, die eigentlich die Proteinquelle für die Flussanwohnenden sind, bedrohen die Gesundheit der Menschen. Doch auch legale Bergbauprojekte bedrohen die Region. So wird Bauxit für die Aluminiumherstellung schon seit vielen Jahren in Amazonien abgebaut. Der US-Konzern Alcoa, der die Mine betreibt, will nun in ein Gebiet, in dem traditionelle Gemeinschaften leben, expandieren. Ivete zeigt eine Karte mit den Konflikten um Land und Bergbau in der Gegend. Sie kämpft schon seit zwanzig Jahren gegen die Expansion des Sojas. Unterstützt wurde sie dabei von Greenpeace und berichtete darüber auch in Deutschland. Die Folge waren gegen sie gerichtete Drohungen, sodass sie zehn Jahre lang unter Polizeischutz leben musste. „Das war schwer auszuhalten und auch eine enorme Belastung für die Familie. Ich bin krank geworden. Und dann kam Bolsonaro. Es ist ja nicht nur so, dass er unsere Rechte eingeschränkt hat, er greift unsere Identität an. Wir sind für ihn unnütz, unproduktiv, eine Behinderung für die Entwicklung. Der Wald und wir sollen weg. Das Problem ist jedoch nicht nur Bolsonaro – Viele in der Region denken wie er. Sie werden durch Bolsonaro ermuntert, gestärkt.“
Ivete ist sich bewusst, dass mit einem Präsidenten Lula nicht alles sofort anders werden würde. „Aber unsere Möglichkeiten, Widerstand zu leisten, würden gestärkt werden. Wir hätten mehr Rückhalt in der Gesellschaft und in der Justiz.“
Im Gebäude der Gewerkschaft sind außer dem Pförtner nur Frauen zu sehen, nur wenige Männer arbeiten hier. Ivete lacht. „Ja, wir Frauen haben jetzt hier das Zepter in die Hand genommen, wir sind die Mehrheit im Vorstand. Ich glaube, wir sind irgendwie organisierter und beharrlicher als die Männer. „Aber noch etwas anderes hat sich in den letzten Jahren geändert. Vor etwa 20 Jahren begannen in der Region lokale, traditionelle Gemeinschaften um die Anerkennung als Indigene zu kämpfen. „Wir haben darin anfangs eine Gefahr der Spaltung gesehen und waren eher ablehnend. Das sehen wir inzwischen anders. Die Vielfalt ist auch eine Kraft in unserem Kampf. Und die Indigenen sind die Avantgarde im Kampf gegen Bolsonaro.“
Die NGO Terra de Direitos: Erfolge sind trotz Bolsonaro möglich
In Santarém arbeitet auch Terra de Direitos, eine Menschenrechtsorganisation, die u.a. von Misereor, Brot für die Welt und der Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt wird. Ich bin mit Pedro Martins verabredet. „Ich schicke Dir die Adresse per WhatsApp zu“, schreibt er. Tatsächlich kommen dann genaue Angaben, wie ich das Büro finden kann. Das ist auch notwendig, denn die Adresse steht nicht im Internet, kein Schild weist auf das Büro hin. Das ist kein Zufall. „Ja, wir wollen nicht zur Zielscheibe werden. Wir sind zweimal umgezogen, in unser Büro wurde eingebrochen, Holzhändler, mit denen wir in Konflikt lagen, haben das Büro neben uns bezogen“. Solche Bedrohungen sind Alltag für die NGOs in Amazonien.
„Das alles konnte uns nicht einschüchtern“, erklärt Pedro. „Wir haben unsere Arbeit während der Bolsonaro Zeit fortsetzen können und dafür war die internationale Unterstützung fundamental.“
Pedro betont positive Aspekte der letzten Jahre: „Die Streitigkeiten innerhalb der Opposition haben nachgelassen, Bolsonaro hat uns geeint. Viele sind aus der Parteipolitik wieder an die Basis zurückgekehrt und das hat zur Stärkung der Arbeit beigetragen“. Als besondere Erfolge stellt Pedro die Kurse zur Ausbildung von Menschenrechtsverteidiger*innen und juristische Siege in der Anerkennung von Territorien von Quilombolas heraus. Noch am selben Tag kann er einen großen Erfolg verkünden: Ein Gericht hat der Klage von Terra de Direitos und anderen lokalen Gruppen gegen den Ausbau des Sojahafens von Cargill stattgegeben.
Trotz vieler Differenzen haben sich die sozialen Bewegungen Brasiliens hinter die Kandidatur Lulas gestellt. Er ist und bleibt die einzige Hoffnung, die Regierung Bolsonaro zu beenden. Trotz aller Drohungen hat es Bolsonaro nicht geschafft, die Opposition auszulöschen oder einzuschüchtern.
Die konkrete Aussicht auf einen Erfolg bei den Wahlen im Oktober macht Mut und verleiht Kraft, trotz aller Drohungen Bolsonaros. Die Opposition hofft auf ein klares Wahlergebnis, so dass der Vorwurf der Wahlfälschung unglaubhaft bleiben wird. Aber in den Gesprächen ist auch Erschöpfung nach fast vier Jahren Bolsonaro zu spüren. Niemand mag sich vorstellen, was weitere vier Jahre Bolsonaro bedeuten würden.