Chilenischer Zeitungsartikel aus dem Jahr 1967

[Santiago de Chile, 23.08.2017] Die zweite Kammer des chilenischen obersten Gerichtshofs hat am gestrigen Abend in einem seltenen Vorgang ein Unrechtsurteil gegen Wolfgang Kneese aus dem Jahr 1967 aufgehoben. Damit wurde der damals wegen „Beleidigung und Verleumdung“ zu fünf Jahren Haft verurteilte ehemalige Bewohner der Colonia Dignidad, über fünfzig Jahre nach seiner erfolgreichen Flucht aus der deutschen Sektensiedlung, vollständig rehabilitiert. Kneese war das erste Koloniemitglied, dem nach zwei erfolglosen Versuchen in den Jahren 1962 und 1963 im Februar 1966 eine Flucht aus dem umzäunten und hochbewachten Gelände gelang. Er informierte die chilenischen Behörden und bundesdeutsche Diplomaten über die menschenrechtswidrigen Zustände in der Sektensiedlung. Kneese berichtete über Freiheitsberaubung, körperliche Gewalt- und mysteriöse Todesfälle, Ruhigstellung durch Psychopharmaka-Medikamente und den systematischen sexuellen Missbrauch an Koloniebewohnern durch den Sektenführer Paul Schäfer. Die Colonia-Führung zeigte Kneese daraufhin wegen Verleumdung an und erreichte eine Verurteilung zu fünf Jahren Haft.

Wolfgang Kneese (damals: Wolfgang Müller) konnte sich vor Haftantritt in die Bundesrepublik absetzen, wo er seitdem die Verbrechen der Colonia Dignidad anprangerte und Aufklärung forderte. Er war Mitgründer der Vereine „Not- und Interessengemeinschaft der Geschädigten der Colonia Dignidad“ sowie „Flügelschlag e.V.“ und unterstützte den chilenischen Menschenrechtsanwalt Hernán Fernández in seinem Kampf gegen die Sekte. Fernández hatte einen entscheidenden Anteil an der Festnahme von Paul Schäfer in Argentinien im Jahr 2005.

Für ihren unermüdlichen Kampf für die Aufklärung der Verbrechen der Colonia Dignidad wurden Wolfgang Kneese und Hernán Fernández im Jahr 2006 mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Beide halten die bisher erfolgte Aufklärung der Verbrechen der Colonia Dignidad seitens der chilenischen und deutschen Justiz jedoch für ungenügend und fordern bis heute eine Intensivierung der strafrechtlichen Aufarbeitung seitens der deutschen und der chilenischen Justiz.

In seinem gestrigen Urteil führt  das höchste chilenische Gericht aus, dass die damals von Kneese vorgebrachten Behauptungen inzwischen allesamt durch rechtskräftige Urteile der chilenischen Justiz bewiesen seien. Die Corte Suprema hob daher das Urteil aus dem Jahr 1967 auf und sprach Kneese von allen dort enthaltenen Vorwürfen frei. „ Ich habe mit dem Teufel Schach gespielt und gewonnen“, sagte ein erleichteter Wolfgang Kneese in einer ersten Reaktion auf das Urteil. Der Menschenrechtsanwalt Hernán Fernández erklärte: “Dies ist ein historisches Urteil. Es erkennt an, dass bereits vor 50 Jahren von einem tapferen jungen Bewohner der Colonia Dignidad die Wahrheit gesagt wurde. Dieser musste drei Fluchtversuche aus der Siedlung unternehmen und dem chilenischen Staat entfliehen, der ihn einsperren wollte.  Dieses Urteil stellt eine Herausforderung dar, die unaufgearbeiteten Verbrechen aufzuklären und die gesamte Wahrheit ans Licht zu bringen. Die deutschen und die chilenischen Ermittlungsbehörden sollten hierbei enger zusammenarbeiten“, so Fernández.

Viele der Mittäter von Paul Schäfer sind in den letzten Jahren in die Bundesrepublik zurückgekehrt. Die hiesige Justiz hat trotz jahrzehntelanger Ermittlungen jedoch noch nie eine Anklage gegen Täter der Colonia Dignidad erhoben. In der vergangenen Woche entschied das Landgericht Krefeld jedoch, dass eine in Chile gegen das ehemalige Führungsmitglied Hartmut Hopp verhängte Haftstrafe in Deutschland vollstreckt werden kann.

Der Deutsche Bundestag hatte Ende Juni in einem einstimmigen Beschluss aufgefordert, Maßnahmen zur Aufarbeitung der Colonia Dignidad zu ergreifen. Daraufhin hatten Vertreter des Auswärtigen Amts und des chilenischen Außenministeriums eine Absichtserklärung zur Gründung einer bilateralen Aufarbeitungskommission unterzeichnet. Die Kommission, die auch Mechanismen zur Verbesserung der bilateralen Zusammenarbeit bezüglich der strafrechtlichen Aufarbeitung thematisieren soll, wird noch in diesem Jahr ihre Arbeit aufnehmen.

 

Pressemitteilung der chilenischen Justiz zu den gestrigen Urteilen:

http://www.pjud.cl/web/guest/noticias-del-poder-judicial/-/asset_publisher/kV6Vdm3zNEWt/content/corte-suprema-acoge-recurso-de-revision-de-sentencia-que-condeno-a-fugado-de-colonia-dignidad  (hier ist auch der Volltext des Urteils zum Download verfügbar).

Ausgewählte Chilenische Pressemeldungen:

http://www.latercera.com/noticia/corte-suprema-anula-condena-primer-fugado-denunciante-colonia-dignidad/

http://www.cnnchile.com/noticia/2017/08/23/acogen-recurso-de-revision-y-anulan-condena-contra-wolfgang-knesse

 

Ausgewählte Presseveröffentlichungen zur Entscheidung des Landgerichts Krefeld vom 14.08.2017:

http://www.spiegel.de/panorama/justiz/hartmut-hopp-strafe-gegen-colonia-dignidad-arzt-kann-in-deutschland-vollstreckt-werden-a-1162835.html

http://www.sueddeutsche.de/politik/colonia-dignidad-strafe-fuer-den-arzt-der-colonia-dignidad-1.3628500

https://amerika21.de/2017/08/183017/fluchtgefahr-hopp-colonia-dignidad

http://www.dw.com/es/c%C3%A1rcel-para-m%C3%A9dico-de-colonia-dignidad-un-paso-m%C3%A1s-contra-la-impunidad/a-40165945

 

Am kommenden Montag (28.08.2017) um 19.40 zeigt ARTE die Dokumentation „Colonia Dignidad – Opfer bis heute“.

https://www.arte.tv/de/videos/072509-009-A/re-colonia-dignidad

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