In Brasilien trat Lula da Silva am Neujahrstag sein Amt an. Menschen aus dem ganzen Land reisten an, um diesen Moment mitzuerleben. Auch internationale Gäste waren zur Amtseinführung vor Ort. Die Erwartungen sind groß.
Von Thomas Fatheuer
Aktuelle Meldung (Stand 09.01.2023, 11:00Uhr): Anhänger*innen Bolsonaros stürmen Parlament, Präsidentenpalast und Obersten Gerichtshof
Nachdem die Amtsübergabe am 1. Januar erstaunlich ruhig verlaufen war, haben Anhänger*innen des Ex-Präsidenten Bolsonaro am Sonntag den 8. Januar das brasilianische Parlament und den Obersten Gerichtshof gestürmt. Die Polizei war zunächst nicht nur untätig, sondern begleitete sogar den Demonstrationszug zum Parlament. Erst als die Bilder der Verwüstung, die die Bolsonaristas in den besetzten Gebäuden anrichteten, um die Welt gingen, griff die Polizei Brasílias ein. Die brasilianische Bundesregierung hat inzwischen interveniert, gegen den Justizminister des Bundesdistriktes Brasília ist ein Haftbefehl ausgestellt worden. Er befindet sich in Florida, wo auch Bolsonaro Zuflucht gesucht hat.
Am 9. Januar ist die Lage weitgehend unter Kontrolle, allerdings ist das Zeltlager der Bolsonaristas vor dem Hauptquartier der Armee noch nicht geräumt. Der Angriff auf die brasilianische Demokratie hat weltweite Empörung ausgelöst und sogar einige Unterstützer*innen Bolsonaro distanzierten sich. Es bleibt zu hoffen, dass die kriminelle Aktion am 8. Januar zur politischen Isolierung Bolsonaros und seiner Anhänger*innen führt.
Ohne Zwischenfälle konnte Lula da Silva am 1. Januar das Amt als Präsident Brasiliens antreten. Für viele Menschen in Brasilien ist das Ende der Amtszeit des rechtsradikalen Jair Bolsonaros auch das Ende eines vierjährigen Albtraums. Die Zeit nach dem Wahlsieg von Luiz Inácio Lula da Silva war angespannt. Bolsonaro weigerte sich, die Niederlage anzuerkennen und seine Anhänger*innen demonstrierten vor Kasernen, um das Militär zum Einschreiten zu bewegen.
Der Amtsantritt Lulas war ein Fest der Freude und der Hoffnung – voller symbolischer Gesten: Acht Menschen, die das brasilianische Volk und die Zivilgesellschaft repräsentieren – darunter Raoni Metuktire, indigener Anführer der Kayapó und Aline Sousa, Müllsammlerin aus Brasília, überreichten Lula die Präsidentenschärpe. Mit insgesamt 37 Ministerien startet die neue Regierung, zuvor waren es 23. Auch im Kabinett mangelt es nicht an Symbolkraft: Zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens gibt es ein Ministerium für indigene Völker, die Ministerin ist Sônia Guajajara, indigene Politikerin aus Maranhão. Die Schwester der 2018 ermordeten Stadträtin Marielle Franco, Anielle Franco, wird Ministerin für die Gleichstellung ethnischer Gruppen. Mit der Ernennung der international hoch angesehenen Marina Silva zur Umweltministerin zeigt Lula, dass es ihm mit Kampf gegen Entwaldung ernst ist. Lula gibt damit ein starkes Signal für grundlegende Änderungen – und seine Person verleiht dem Glaubwürdigkeit. Das neue Ansehen Brasiliens spiegelt sich auch in der Teilnahme internationaler Staatsoberhäupter, darunter auch Frank-Walter Steinmeier zur Amtseinführung von Lula wieder. Unter Lula verlässt Brasilien die Paria Rolle, in die Bolsonaro das Land durch seine Klima- und Amazonaspolitik geführt hatte.
Startsignal für die neue Zeit war bereits der Auftritt des gewählten Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva auf der Klimakonferenz (COP 27) in Ägypten. Lula war der Topstar der Konferenz. Dagegen blieb die Beteiligung der damals noch im Amt stehenden Regierung Bolsonaro unscheinbar.
Lulas Auftritt auf der COP 27 war mehr als eine Show für das internationale Publikum. Das Signal ist klar: Umwelt- und Klimapolitik stehen wieder ganz oben auf der Agenda der zukünftigen brasilianischen Regierung. Lula machte dabei eine bedeutsame Ankündigung: Bis 2030 soll die Entwaldung auf Null reduziert werden. Dabei ist der genaue Wortlaut wichtig: Lula hat das 2030 Ziel nicht auf illegale Entwaldung beschränkt, sondern er will bis dahin jegliche Entwaldung sowie die Degradierung von Wäldern eliminieren. In seiner Rede betonte Lula die besondere Bedeutung der indigenen Völker für den Umwelt- und Klimaschutz: „Die indigenen Völker und diejenigen, die in der Amazonasregion leben, müssen die Protagonisten ihrer Erhaltung sein.“
Aber neben Lula und den ihn unterstützenden Organisationen der Zivilgesellschaft gab es noch einen anderen, sehr aktiven und sichtbaren Akteur aus Brasilien auf der COP mit einem gänzlich anderen Ansatz der Amazonaspolitik: die Delegation der Gouverneur*innen der Bundesstaaten Amazoniens, allen voran der Gouverneur von Pará, Helder Barbalho, ein Verbündeter Lulas. Wie auch schon bei den letzten COPs veröffentlichten die Gouverneur*innen auch in Ägypten ein gemeinsames Statement. Darin schlagen sie die finanzielle Inwertsetzung des Waldes vor: „Wir brauchen einen lebenden Wald, der in der Lage ist, Umweltdienstleistungen zu erzeugen, für die wir – neben anderen Produkten aus dem Wald – Vergütungen erzielen. Der lebende Wald ist eine Ware auf dem Markt für Umweltgüter und -dienstleistungen.“ Diese Vorstellung des Waldes als commodity widerspricht diametral den Vorstellungen der indigenen Völker und traditionellen Gemeinschaften, die den Wald in erster Linie als Lebensraum und –grundlage sehen, nicht als Ware.
Hier zeigt sich beispielhaft, was eine, wenn nicht die zentrale Herausforderung für die Regierung Lula sein wird: ganz unterschiedliche Interessen und Positionen innerhalb des breiten Bündnisses, das den Wahlsieg gesichert hat, zu vereinen. Hinzu kommt die Macht der Gouverneur*innen, die ihn zwar in ihre Delegation zur COP eingeladen haben, aber die Regierung Lula gerade in Amazonien vor Herausforderungen stellen werden: Mit Ausnahme der Bundesstaaten Pará und Amapá siegten in den anderen sieben Amazonas-Bundesstaaten Gouverneur*innen, die Bolsonaro unterstützten. Es bleibt die Hoffnung, dass mit der neuen brasilianischen Regierung eine wichtige Stimme des Globalen Südens wieder eine aktive Rolle in der globalen Klimapolitik spielen wird. Lula gab dieser Hoffnung Auftrieb mit seiner Ankündigung, Brasilien trage im Jahr 2025 die Klimakonferenz COP30 in Amazonien aus.
Lulas Auftritt in Sharm el-Sheik und die Debatte um Amazonien stellte alle anderen Themen bei der COP in den Hintergrund. Von den Ergebnissen der COP zeigte sich das Observatório do Clima, ein Zusammenschluss von wichtigen brasilianischen NGOs, enttäuscht. Als Erfolg wird lediglich die Schaffung des internationalen Fonds für Klimaschäden angesehen, auch wenn die Finanzierung weitgehend offenbleibt. Der brasilianischen Regierung fiel es leicht dem zuzustimmen, weil finanzielle Verpflichtungen für Schwellenländer nicht vorgesehen sind und viele lateinamerikanische Länder – auch Brasilien – Zahlungen erhalten werden können. Da aber darüber hinaus keine konkreten Schritte beschlossen wurden, um auf den Pfad zur Erreichung des 1.5 Grad Ziels zu gelangen, wird die COP 27 insgesamt als Enttäuschung bewertet.
Die internationalen Erwartungen an Lula richten sich an seine Politik in Umweltfragen und Amazonien. Aber in Brasilien erwarten die Wähler*innen vor allem wirtschaftliche Handlungserfolge von ihrem Präsidenten. In einem Punkt sind sich alle Beobachter*innen einig: Lulas Erfolg wird sich innenpolitisch an dem wirtschaftlichen Erfolg der Regierung messen. Dies spiegelt auch die Entscheidung über die Besetzung des Wirtschaftsministeriums wieder: Minister wird Fernando Haddad, der bei den Präsidentschaftswahlen 2018 Bolsonaro unterlag. Er gilt bisher auch als wahrscheinlichster Kandidat für eine Nachfolge Lulas in vier Jahren. Diese Aussicht unterstützt seine Ernennung zum Minister für das Wirtschaftsministerium, das als das wichtigste Ressort gilt. Allerdings sind die Erwartungen an die Wirtschaftspolitik durchaus unterschiedlich. Während „die Märkte“ und die konservativen Bündnispartner*innen der Regierungskoalition insbesondere eine restriktive Haushaltspolitik ohne Anstieg der Verschuldung verlangen, priorisieren andere Erfolge im Kampf gegen Hunger und Armut.
Dass diese Erwartungen durchaus in einem Spannungsverhältnis stehen, zeigte sich bereits in der Übergangszeit. Es fehlt vor allem eins: Geld. Das liegt unter anderem daran, dass 2016 mit einer Änderung der Verfassung ein Haushaltsdeckel beschlossen wurde. Für 20 Jahre darf der Haushalt nicht über die Inflationsrate hinauswachsen. Die Einhaltung dieses Haushaltsdeckels würde sowohl die Wiederaufnahme bzw. Weiterführung der Sozialprogramme wie auch neue Investitionen etwa in Sozialpolitiken unmöglich machen. Eine Flexibilisierung wäre nur mit einer Verfassungsänderung möglich, für die es einer Zweidrittelmehrheit im Parlament bedürfte. Hier zeigt sich aber ein erster Erfolg des Verhandlungsgeschicks Lulas: Ein Antrag, der den Haushaltsdeckel anhebt, um für zwei Jahre Sozialprogramme zu finanzieren und Investitionen zu ermöglichen, hat die notwendige Mehrheit erhalten.
Dieser erste Erfolg Lulas zeigt, dass sein Regieren in der nächsten Zeit extrem schwierig und komplex sein wird, aber nicht unmöglich. Viel hängt allerdings auch von der globalen Wirtschaftsentwicklung ab. Brasilien ist inzwischen ein erdölexportierendes Land, hat große Gasverkommen und exportiert landwirtschaftliche Produkte, insbesondere Mais und Soja. Damit sind die Auswirkungen der durch den Ukraine-Krieg verursachten Energiekrise in Brasilien geringer. Hält das Wirtschaftswachstum an, dürfte dies eine gute Grundlage sein, um die zentralen sozialpolitischen Versprechen zu erfüllen. Diese auf Erdöl und Gas fixierte Energieversorgung wird zwar durch erneuerbare Energien ergänzt, aber nicht ersetzt. Alle Prognosen gehen von einer Steigerung der Öl- und Gasproduktion in den nächsten zehn Jahren aus. Für Lula war dieses Wirtschaftsmodell die Basis dafür, Sozialpolitik zu finanzieren. Die Erreichung der Reduktionsziele hängt praktisch ausschließlich von der Reduzierung von Entwaldung ab. Diese wieder zu senken ist Kern der Klimapolitik der neuen brasilianischen Regierung und Garant für die Rückkehr Brasiliens auf die internationale Bühne. Sich bei Emissionsreduzierungen auf die Entwaldung zu konzentrieren, bedeutet jedoch auch, dass Öl- und Gasproduktion weiter wie bisher laufen, wenn nicht sogar steigen. Es ist nicht zuletzt diese Gemengelage, welche die Ambitionen der neuen Regierung zur Reduzierung von Entwaldung glaubwürdig machen.
Die katastrophale Bilanz der Regierung Bolsonaro begünstigt Lula. Schon geringe Verbesserungen werden einen großen Unterschied machen. 49,1% der Wähler*innen gaben Bolsonaro ihre Stimme. Er und seine Anhänger*innen werden ein Faktor in der brasilianischen Politik bleiben. Auchwenn nun – nach Amtsantritt des neuen Präsidenten Lula da Silva – auch die letzten Proteste gegen das Wahlergebnis von Ende Oktober in sich zusammenbrechen. Dies wird auf der einen Seite den Zusammenhalt der Koalition stärken, auf der anderen Seite aber auch den Spielraum für Reformen verkleinern. Dies gilt insbesondere für die Rechte von Frauen und LGTBQ+. Denn bei einem Scheitern der Regierung Lula droht die Rückkehr zu Bolsonaro oder seinen Verbündeten. Dieses Schreckgespenst wird die brasilianische Politik in den nächsten Jahren entscheidend beeinflussen und verdammt die Regierung zum Erfolg.