Der Machtwechsel in Brasilien stärkt die Demokratie. Auch Umwelt und Klima stehen wieder auf der Agenda. Von Thomas Fatheuer
Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Webseite der Heinrich-Böll-Stiftung. Mit freundlicher Genehmigung übernommen von: FDCL
Von Thomas Fatheuer
Als in der Nacht vom 30. Oktober feststand, dass Lula da Silva die Wahlen gewonnen hatte, erfasste eine Welle der Freude Brasilien. Die Menschen feierten ausgelassen und plötzlich waren die „Bolsonaristas“ erstmal verschwunden. Die Erleichterung war riesengroß – es war bis zuletzt ein dramatischer Stimmenkampf: Lula gewann mit 50,9 Prozent der gültigen Stimmen.
Auch wenn es knapp war – der Sieg von Lula ist eindeutig und historisch. Besonders ist, dass in der jüngeren Geschichte Brasiliens noch nie einem amtierenden Präsidenten die Wiederwahl misslang. Lulas breites Bündnis musste gegen einen Staatsapparat antreten, der skrupellos durch Wahlgeschenke in Form von Hilfszahlungen an die ärmere Bevölkerung deren Stimmen gewinnen wollte – und gegen eine geradezu biblische Plage von Verleumdungen und fake news, die die sozialen Netzwerke überschwemmte. So wurde immer wieder behauptet, Lula wolle etwa Kirchen schließen. Und am Wahltag führte die Bundesverkehrspolizei zahlreiche Kontrollen durch und behinderte so Wähler*innen – insbesondere in Hochburgen der Opposition im Nordosten des Landes.
Am Tag nach der Wahlnacht machten Bolsonaros Anhänger*innen wieder auf sich aufmerksam: Sie bezeichneten das Wahlergebnis als Fälschung, blockierten in ganz Brasilien Fernstraßen und forderten vor den Kasernen die Streitkräfte auf einzugreifen – was aber ausblieb. Am Ende der Woche war diese Form der militanten Proteste eingebrochen. Die Straßenblockaden wurden nach Anordnung des Obersten Wahlgerichtshof beseitigt, am Schluss waren die radikalen Bolsonaristas isoliert. Erst nach zwei Tagen Schweigen meldete sich Bolsonaro mit einer Pressekonferenz zu Wort, seinem Gegner hat er aber bis heute nicht gratuliert. Aber Bolsonaro hat schließlich den mit Lula da Silva gewählten Vizepräsidenten Geraldo Alckmin zum Koordinator des Teams ernannt, das den Regierungswechsel vorbereiten soll. Damit scheint nun der Sieg der Demokratie in Brasilien gefestigt, das bekräftigt auch Lula immer und immer wieder.
Endlich wird der Klimaschutz wieder angegangen
Obwohl noch nicht im Amt, setzt Lula erste wichtige Zeichen: Er fliegt am 14. November zur Klimakonferenz (COP27) nach Ägypten, zu der er von dem ägyptischen Präsidenten Al-Sisi ausdrücklich eingeladen wurde. Damit geht eine lange Zeit der Umwelt- und klimapolitischen Sabotage auf internationalen Konferenzen zu Ende. Die Wälder Amazoniens und des Cerrado hätten ein zweite Amtszeit Bolsonaro wohl kaum überlebt. Dies hätte auch die globalen Klimaziele fundamental gefährdet. Gerade in dieser Frage hat sich Lula stark profiliert und ein radikales Gegenprogramm zu Bolsonaro vertreten. Während Bolsonaro zu Invasionen in indigene Gebiete und zu illegaler Entwaldungen ermutigte, hat Lula die Reduzierung von Entwaldung und die Verteidigung der indigenen Gebiete zu einer Priorität seiner nächsten Amtszeit erklärt. Die Ankündigungen Lulas gewinnen durch die Versöhnung mit der ehemaligen Umweltministerin Marina Silva während des Wahlkampfs an Glaubwürdigkeit. Von 2002 bis 2008 war sie bereits Umweltministerin im Kabinett Lula. In ihrer Amtszeit gelang es, die Entwaldung drastisch zu reduzieren. Sowohl als mögliche neue brasilianische Umweltministerin als auch als gewählte Abgeordnete wird sie eine Schlüsselfigur in der brasilianischen Umweltpolitik sein.
Die Regierung Lula steht vor immensen, ja schier unlösbaren Herausforderung, das betonte vor allem die internationale Presse nach dem Wahlsieg. Das ist natürlich richtig, aber viele der Herausforderungen sind lediglich die neue Normalität in vielen Ländern dieser Welt. Ja, die neue Regierung wird gegensätzliche Interessen, die von indigenen Völkern bis zum Agrobusiness reichen, vereinbaren müssen. Aber ähnliche Herausforderung kennen auch wir in Deutschland bzw. Europa.
Keine parlamentarische Mehrheit – wie kann trotzdem regiert werden?
Seit dem Ende der Militärdiktatur verfügte kein Präsident Brasiliens über eine eigene parlamentarische Mehrheit direkt nach der Wahl. Das gilt auch für die dritte Amtszeit Lulas ab 2023. Aber alle bisherigen Präsidenten haben sich letztendlich mit dem Parlament geeinigt und mit der Hilfe eines heterogenen Blocks von Abgeordneten regiert, der heute Centrão genannt wird. Diese Abgeordneten eint nicht ein ideologisches Konzept, sondern der unbedingte Wille zur Regierungsbeteiligung. Die Frage ist deshalb nicht, ob die Regierung Lula parlamentarische Unterstützung organisieren kann, sondern welchen Preis sie dafür zahlen muss. Bisher hat dies über einen Mechanismus funktioniert mit dem Abgeordnete Ergänzungen zum Haushalt einbringen können, mit denen dann Vorhaben in ihrem Wahlkreis finanziert werden. Lulas Verhandlungsgeschick sowie seine Bereitschaft auch mit umstrittenen Verbündeten zu regieren, wird von entscheidender Bedeutung sein.
Der Bolsonarismus ist gekommen um zu bleiben
Eine weitere Warnung ist allgegenwärtig. Die 49,10 Prozent der Wähler*innen, die für Bolsonaro gestimmt haben, werden nicht verschwinden. Das ist nur zu wahr, aber was dies bedeutet ist unklarer, als es auf den ersten Blick erscheint. Wie viele diese Wähler*innen gehören zu einem harten ideologischen Kern? Niemand weiß dies im Augenblick zu sagen. Erste Absatzbewegungen aus dem Lager Bolsonaros sind bereits zu erkennen. So erblickte der Führer der Igreja Universal, einer der größten evangelikalen Gruppen in Brasilien und Unterstützer von Bolsonaro, Edir Macedo, plötzlich im Wahlsieg Lulas nicht nur ein Votum der Mehrheit, sondern gar „den Willen Gottes“. Im Bundesstaat São Paulo hingegen ist mit dem Ex-Infrastruktur-Minister Bolsonaros, Tarcísio de Freitas, ein neues Schwergewicht in die brasilianische Politik eingetreten. Er könnte als Gouverneur das Erbe Bolsonaros antreten. Tarcísio de Freitas hat sich inzwischen von den ideologischen Radikalismen Bolsonaros entfernt und verkauft sich als pragmatischer Macher. Als Gouverneur von São Paulo verfügt er über einen größeren Haushalt als die meisten Staaten Südamerikas.
Bolsonaro bleibt mit seinen über 58 Millionen Stimmen ein immenser Faktor in der brasilianischen Politik. Die Resilienz von Trump sollte da eine Warnung sein. Aber das Weiterleben des Bolsonarismo ist nicht nur eine politische Frage. Seine ideologischen Grundpfeiler, wie die Verteidigung der traditionellen Familie als einzige anerkannte Lebensform, radikaler Anti-Feminismus, die militante Ablehnung der Abtreibung sowie die Rechtfertigung von Gewalt und Waffen, all dies ist nun tief in großen Teilen der brasilianischen Gesellschaft verankert. Dieser Teil der Gesellschaft hat sich nun in den sozialen Medien von der traditionellen Öffentlichkeit weitgehend abgekoppelt und sich in einem tiefen Hass auf alles angeblich Linke verschanzt. Gerade diese Strömungen werden sich weiterhin eher durch Bolsonaro und seine engen Verbündeten, wie die nun als Senatorin gewählte Ex-Familienministerin Damares Alves, vertreten sehen als durch pragmatische Gouverneure.
Mit seiner antidemokratischen Politik und Rhetorik hat es Bolsonaro nicht nur geschafft, die Linke in Brasilien zu vereinigen, sondern auch ein Bündnis zwischen dem linken Lager und den Mitte-Rechts-Kräften in Brasilien zu ermöglichen. Das knappe Wahlergebnis zeigt, wie notwendig dieses Bündnis war und ist. Lula hat in seiner ersten Rede nach der Wahl daher auch zu Recht betont, dass er nicht als Präsident der Arbeiterpartei PT gewählt wurde, sondern als Kandidat dieses Bündnisses. Von seiner Regierung ist keine umfassende sozial-ökologische Transformation zu erwarten, sondern eine Rückkehr zur demokratischen Normalität. Eine Normalität in der die Institutionen und Menschenrechte nicht mehr vom Präsidenten angegriffen werden. Wenn Lula es schafft, zwei Erwartungen zu erfüllen, wäre viel erreicht: die Beseitigung von Hunger und extremer Armut sowie die Reduzierung der Entwaldung und somit das ins Zentrum der Politik rücken der Rechte der indigenen Bevölkerung und traditionellen Gemeinschaften.
Insbesondere letzteres wird nicht einfach sein: die Herausforderungen sind heute andere als vor zwanzig Jahren, als er seine erste Amtszeit antrat. Zu dem ganz bitteren Erbe der Regierung Bolsonaro gehört, dass sich im Schatten der law and order Rhetorik insbesondere in Amazonien das organisierte Verbrechen ausbreiten konnte und mit dem illegalen Goldbergbau und der Entwaldung verbandelt ist. „Heute gibt es 1.264 illegale Landebahnen (für Kleinflugzeuge) in Amazonien, als ich Ministerin war, waren es 86, und wir dachten das wären viele“, erklärte jüngst Marina Silva.
Um hier handlungsfähig zu werden, braucht Brasilien internationale Unterstützung. Auch die deutsche Regierung sollte sich zu schneller und unbürokratischer Hilfe bereit erklären.