Dieser Text bildet den Auftakt einer Artikelreihe zu „Brasilien im Wahljahr“, die in unregelmässigen Abständen im Verlaufe des Jahres 2022 auf den Webseiten von KoBra und FDCL veröffentlicht wird.

Lula. Foto: Christian Russau, Nov. 2021, Berlin

Lula. Foto: Christian Russau, Nov. 2021, Berlin

Obwohl der offizielle Wahlkampf in Brasilien erst im August beginnen darf, konsolidiert sich das Szenario: Alles deutet auf ein Duell zwischen Ex-Präsident Lula und Amtsinhaber Bolsonaro hin. Damit ist die Aussicht, dass die Schreckensherrschaft Bolsonaros dieses Jahr zu Ende geht, realistisch – aber keineswegs sicher.

Lula vorne
In allen Umfragen der letzten Wochen (Stand Ende März) führt Lula ganz eindeutig mit Werten von etwas über 40 Prozent. Die Ergebnisse schwanken ein wenig, so dass man tatsächlich von einer stabilen Führung Lulas ausgehen kann. Die letzte Umfrage der als seriös geltenden Datafolha sieht Lula bei 43 Prozent, Bolsonaro bei 26 Prozent. Allerdings hat sich der Abstand zwischen Lula und Bolsonaro in den letzten Umfragen langsam, aber stetig verringert. Dieser Trend bestätigte auch eine am 30.3. veröffentlichte Umfrage von poder 360, die das Wahlverhalten in einer eventuellen Stichwahl zwischen Lula und Bolsonaro reflektiert. Die Differenz zwischen Lula und Bolsonaro hat sich seit Januar deutlich verringert (s. Grafik bei PoderData).
Keineswegs sollte also davon ausgegangen werden, dass die Wahl bereits entscheiden ist. Bis zu der Abwahl Bolsonaros liegt vor den demokratischen Kräften Brasilien noch ein langer, schwieriger Weg.

Keine Alternative zu Lula!?
Alle Versuche, auf dem linken Spektrum eine Alternative zu Lula ins Spiel zu bringen, dürfen als gescheitert gelten. Dafür gibt es eigentlich nur einen Anwärter, nämlich Ciro Gomes, der bei den letzten Präsidenschaftswahlen auch für viele aus dem linken, progressiven Spektrum als eine Möglichkeit galt, Bolsonaro zu besiegen. Aber Gomes hat viel politisches Kapital verspielt, als er im zweiten Wahlgang nicht eindeutig für den Kandidaten der PT, Paulo Haddad, eintrat. Im Augenblick teilt Gomes das Schicksal aller sonstigen Kandidaten – er bleibt im einstelligen Prozentbereich hängen, die Umfragewerte schwanken zwischen sieben und neun Prozent.

Die linke Abspaltung der PT, die PSOL, hat bereits ihre Unterstützung für Lula beschlossen und wird – anders als bei den letzten Wahlen – schon im ersten Wahlgang keinen eigenen Kandidaten aufstellen. Der populärste Politiker der PSOL, Boulos, hat auch bei den wichtigen Gouverneurwahlen in São Paulo seine Kandidatur zurückgezogen und wird den Kandidaten der PT, Paulo Hadddad, unterstützen.

Trotz dieser frühen Einigungen gibt es auch Konflikte. Besonders umstritten und von der PSOL und dem linken Flügels der PT offen kritisiert, ist die Option Lulas, unterstützt von der Mehrheit der PT, Geraldo Alckmin zum Vize zu machen. Alckmin war lange Jahre der dominierende Politiker der PSDB und bei den Präsidentschaftswahlen von 2006 der Konkurrent von Lula, der in der Stichwahl geschlagen wurde. Dreimal wurde Alckmin zum Gouverneur von São Paulo gewählt, dem bevölkerungsreichsten Bundesstaat Brasiliens, in dem über 30 Prozent des BIP erwirtschaftet werden. Die Tatsache, dass Alckmin nun als Vize Lulas kandieren will, ist Ausdruck einer atemberaubenden Entwicklung des brasilianischen Parteiensystems. Seit 1994 waren alle Präsidentschaftswahlen ein Zweikampf zwischen den Kandidaten der PSDB und den Kandidat*innen der PT, bei der mit Dilma Rouseff zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens ein Frau in das Präsidentenamt gewählt wurde. Diese Kontinuität in der brasilianischen Politik fand durch Wahl Bolsonaros 2018 ein jähes Ende. Alckmin, der als Kandidat der PSDB angetreten war, blieb unter der Fünfprozenthürde. Die PT und ihr Kandidat wurden zwar (knapp) von Bolsonaro geschlagen, hat aber ihre Postion als eine der entscheidenden Kräfte der brasilianischen Politik behaupten können. Ganz anders die PSDB, die sich in rivalisierende Gruppen zerlegt und an nationaler Bedeutung verliert. Sie geriet in die Hände des Gouverneurs von São Paulo, João Doria, der auch als Präsidentschaftskandidat der PSDB antritt, aber bei Umfragen bisher nicht über 2 Prozent kommt. In diesem Streit hat Alckmin die PSDB verlassen und sich der PSB angeschlossen, einer Partei ohne klares Profil, die aber versucht, sich im progressiven Lager zu positionieren und in der letzten Zeit zahlreiche linke Politiker angezogen hat. Der prominenteste ist vielleicht der in Rio de Janeiro sehr populäre Marcelo Freixo, der aus der Menschenrechtsbewegung kommt und es 2016 sensationell als Kandidat der PSOL in die Stichwahl des Bürgermeisteramtes in Rio schaffte. Seit 2018 ist Freixo Bundesabgeordneter in Brasília für den Bundesstaat Rio de Janeiro.

Die Wahl Alckmins zum Vize hat also zwei Aspekte: Zum einen besiegelt sie ein Bündnis mit der PSB, zum anderen ist sie ein politisches Zeichen. Denn Alckmin galt und gilt als neokonservativ – um nicht zu sagen: reaktionärer Politiker. Lula und die PT wollen mit der Wahl Alckmins zum Vize ein Signal geben, dass Lulas Kandidatur kein linkes Projekt ist, sondern ein breites Bündnis gegen Bolsonaro repräsentiert, das auch konservative Kreise einschließt.

// Thomas Fatheuer

Aktuelle Stimmen aus Brasilien zum Thema:

Lula über Alckmin:
„Alckmin war schon 2006 mein Gegner und war war auch Gegner von Dilma. Aber das ist kein Problem, weil wir einen Vorschlag zur zum Wiederaufbau Brasiliens entwickeln, der die Notwendigkeit berücksichtigt, ein regionales Entwicklungsmodell zu konzipieren.“

Kritik an der Wahl Alckmins zu Lulas Vize:
„Es ist surreal, dass ein Putschist von der PT in Betracht gezogen wird. Es ist unglaublich, das verfälscht total unsere politische Identität. Eine linke Partei mit einem ultraliberalen Kandidaten als Vize.“
(Pedro Pomar, PT Mitglied und Journalist)

Und die Aktivistin Wal Moraes:
„Wir, soziale Aktivistinnen, unterstützen Alckmin nicht, ein „Bürschchen“ der Elite von São Paulo, der keine Frauen mag, der keine Schwarzen mag, der keine Armen mag. Wir verteidigen eine schwarze Frau als Vize von Lula.“