Das Editorial der Lateinamerika Nachrichten N°377, die das FDCL-Projekt Online-Archiv Punto Final zum Gegenstand hat…
Die Geschichte liegt nicht hinter uns, abgeschlossen und vergangen. Sie ist anwesend, lebt fort und hat Bedeutung und Konsequenzen für die Gegenwart. „Was wirklich passiert ist“, ist immer ein umkämpftes Terrain, ein Gegenstand widerstreitender Interpretationen und Erzählungen. Die Vergangenheit ist so sehr umkämpft, weil sie voller Ungerechtigkeit und Leid, voller Projektionen, Sehnsüchte und Utopien ist. Sie ist es auch, weil die Vergangenheit dazu dient, die heutigen Verhältnisse mit zu definieren und zu legitimieren.
Auch Archive als Träger der Geschichtserinnerung sind nicht nur labyrinthische Orte, an denen „tote“ Dokumente verwaltet und aufbewahrt werden. Archive können eine praktische Dimension für das Heute haben, so zum Beispiel für die Forderung nach ökonomischen Entschädigungen oder für den Versuch, Folterer vor Gericht zu bringen. Ihre Konsultation kann aber auch identitätsbezogene oder historiographische Motive haben. Archive definieren sich also vor allem über den Nutzen im Hier und Jetzt, wie und wofür von ihnen Gebrauch gemacht wird, aber auch darüber, wer sie kontrolliert, wer entscheidet, was archiviert wird, was öffentlich zugänglich ist und was nicht. So sind die „Archive der Nation“ vor allem Räume der nationalstaatlichen Selbstaffirmation, in denen nationales Erbe und nationale Identität definiert werden.
Gegen-hegemoniale Archive hingegen können das vorherrschende Geschichtsbild in Frage stellen. Das Punto Final-Archiv-Projekt des Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika FDCL hat diese subversive Kraft. Punto Final ist eine der wichtigsten linken chilenischen Zeitschriften, deren Archiv von der Militärdiktatur zerstört worden war. Weltweit gibt es nur eine Handvoll Bibliotheken und Archive, darunter das FDCL, die mit einer (fast) kompletten Sammlung die vierzigjährige Geschichte von Punto Final dokumentieren. Das FDCL hat deshalb in einer gigantischen Scan-Aktion die historischen Ausgaben von Punto Final aus den Jahren 1965 – 1973 digital erfasst und stellt sie nun der Öffentlichkeit zur freien Verfügung. Gewidmet ist das Projekt den ermordeten und verschwundenen RedakteurInnen der Zeitschrift.
Die Erstellung eines Online-Archivs von Punto Final ist ein wichtiger Beitrag zu einer kritischen Geschichtsschreibung. Mit ihm wird den LeserInnen und sozialen AkteurInnen ein Mittel zu Verfügung gestellt, wichtige Abschnitte der chilenischen Geschichte aus linker Perspektive aufzuarbeiten. Gleichzeitig lädt das Archiv ein zu einer kritischen Re-Lektüre der Geschichte der Linken selbst, um so die Erinnerung wach zu halten und um aus den historischen Erfahrungen zu lernen. Es handelt sich nicht nur um archivierte „Dokumente“, sondern gleichzeitig auch um journalistische Analysen, Berichte, Reportagen und Interviews, von denen etliche auch heute noch von erstaunlicher Aktualität sind. Es ruft anhand der Artikel die Geschichte des Projekts der Unidad Popular ins Gedächtnis und wird selbst zum Bestandteil des Gedächtnisses der Linken. Vor allem aber liefert es historisches Material, um das hegemoniale Geschichtsbild in Chile weiter zu demontieren.
Aber gegen-hegemoniale Archive bergen nicht nur Potenziale, sie sind auch akut in Gefahr. Wenn die finanzielle Lage die kritischen Archive zwingt, sich aufzulösen, wird die Geschichte von unten aus-gelöscht.
Am 4. November findet im Gebäude der IG-Metall in Berlin die online-release-Veranstaltung statt. Die Punto Final-Mitarbeiterin Lucía Sepúlveda Ruiz wird auch anwesend sein.
Danach gibt es Punto Final auf DVD und frei zugänglich im Internet.