Im Jahr 2023 wurden einem Medienericht von TV Brasil und Agência Brasil zufolge 3.151 Arbeiterinnen und Arbeiter aus sklavenarbeitsähnlichen Zwangsverhältnissen in Brasilien befreit. Dies war dem Bericht zufolge die höchste Zahl an aus sklavenarbeitsähnlichen Zwangsverhältnissen befreiten Menschen seit dem Jahre 2009. Das Ministerium für Arbeit und Beschäftigung räumt derweil anhaltend hohe Defizite bei der Aufdeckung sklavenarbeitsähnlichen Zwangsverhältnisse ein, dies vor allem infolge zu wenig zur Bekämpfung von Sklavenarbeit und Überwachung der Arbeitsverhältnisse im Lande eingestellten Personals.

Grundstück mit Haus, das 2015 im Gebiet der Volta Grande do Xingu - in der Nähe des damals noch im Bau befindlichen Staudamms Belo Monte befindlich - wegen sklavenarbeitähnlichen Zwangsverhältnissen Minderjähriger gerichtlich geschlossen wurde. Foto: Christian Russau [2016]

Grundstück mit Haus, das 2015 im Gebiet der Volta Grande do Xingu – in der Nähe des damals noch im Bau befindlichen Staudamms Belo Monte befindlich – wegen sklavenarbeitsähnlichen Zwangsverhältnissen Minderjähriger gerichtlich geschlossen wurde. Foto: Christian Russau [2016]

Von Christian Russau

Im Jahr 2023 wurden in Brasilien 3.151 Arbeiter:innen aus sklavenarbeitsähnlichen Zwangsverhältnissen befreit. Dies berichten TV Brasil und Agência Brasil. Dem Medienbericht zufolge ist dies die höchste Zahl an aus Sklavenarbeit befreiten Menschen im Lande seit dem Jahre 2009, als 3.765 Menschen gerettet wurden. Mit diesen Daten ist die Zahl der Arbeiter:innen, die sich in einer der Sklaverei ähnlichen Situation befinden, seit der Einrichtung der mobilen Inspektionsgruppen des brasilianischen Ministerium für Arbeit und Beschäftigung im Jahr 1995 insgesamt auf rund 63.400 gestiegen.

Die Hauptbereiche der von sklavenarbeitsähnlichen Zwangsverhältnissen betroffenen Sektoren ist dem Bericht zufolge weiterhin der Bereich Feldarbeit. Die meisten Arbeiter:innen wurden dabei im Kaffeeanbau befreit (300 Personen), gefolgt vom Zuckerrohranbau (258 Personen). Unter den Bundesstaaten verzeichnete Goiás die höchste Zahl geretteter Arbeiter:innen (735), gefolgt von Minas Gerais (643), São Paulo (387) und Rio Grande do Sul (333).

Jahr 2023: BASF und die sklavenarbeitsähnlichen Zwangsverhältnisse auf zwei Reisfarmen in Rio Grande do Sul
Auch die Verwicklung der deutschen Firma BASF in Fälle sklavenarbeitsähnlicher Zwangsverhältnisse erregte im Jahr 2023 Aufsehen. Am 11. März 2023 waren 82 Arbeiter:innen (spätere Medienberichten sprachen von sogar 85 Arbeiter:innen – unter ihnen elf Minderjährige im Alter von 14 bis 17 Jahren – von zwei Reis anbauenden Fazendas, rund 50 Kilometer Entfernung der an der Grenze zu Argentinien liegenden Stadt Uruguaiana im südbrasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul, durch Beamt:innen der brasilianischen Bundespolizei PF, des Arbeitsministeriums sowie der Bundesstaatsanwaltschaft für Arbeitsfragen laut Auskunft der zuständigen Ermittler:innen aus sklavenarbeitsähnlichen Zwangsverhältnissen befreit. Den Kontrolleur:innen zufolge erlitten die Arbeiter:innen infolge von Essen- und Flüssigkeitsmangels Ohnmachtsanfälle, ohne dass ihnen medizinisch geholfen wurde, zudem wurde ihnen in solchen Fälle für den Zeitraum kein Lohn bezahlt. Die Kontrolleur:innen stießen zudem auf „entwürdigende Bedingungen“, so der Beamte Vítor Ferreira damals gegenüber dem Portal UOL. Da es keinen Ort gab, um die Lebensmittel zu lagern, sind die Lebensmittel in den Rucksäcken mit den Lunchpaketen auf dem Feld teilweise sehr schnell verdorben, so dass die Arbeiter:innen unter sich solidarisch den Rest aufteilten, der noch nicht verdorben war. Den Beamt:innen erzählten sie dem Bericht bei UOL zufolge von Ameisen, die die Lebensmittel der Arbeiter:innen angriffen, während sie auf dem Feld waren. Mahlzeiten hätten stets aus kaltem Essen bestanden, warme Mahlzeiten gab es nicht. Es gab zudem keine Möglichkeit, das Essen aufzuwärmen. Agrargifte wurde teilweise ohne angemessene Schutzkleidung ausgesprüht, teilweise wurde Agrargifte auch durch minderjährige Arbeiter:innen eingesetzt, so der Bericht. Die Betroffenen bemängelten zudem fehlende Schutzausrüstung wie Stiefel, Sicheln, Hüte, Sonnencreme und die Anstellung erfolgte ohne Papiere und ohne offizielle Registrierung des Arbeitsverhältnisses.

Die Gruppe der 85 Personen wurde in den Farmen Santa Adelaide und São Joaquim von den für die Bekämpfung der Sklavenarbeit zuständigen Einheiten aus Bundespolizei, Arbeitsministerium und Bundesstaatsanwaltschaft ausfindig gemacht, nachdem eine Beschwerde über die Anwesenheit von Jugendlichen auf den Grundstücken ohne unterschriebene Papiere und unter irregulären Bedingungen eingegangen war. Die Betroffenen stammten alle aus Gemeinden des an Argentinien angrenzenden Gebiets aus dem Westen des Bundesstaats Rio Grande do Sul, insbesondere aus Itaqui, São Borja, Alegrete und Uruguaiana. Auf den Fazendas stellten die Ermittler:innen fest, dass die Gruppe angeheuert wurde, um sogenannten roten Reis zu schneiden, ein Gras, das neben dem Reis wächst und der Ernte Schaden zufügt. Die Arbeiter:innen sollten selbst für Arbeitsgeräte sorgen, und das Ausbringen von Pestiziden erfolgte ohne individuelle Schutzausrüstung.

BASF wurde vom brasilianischen Ministerium für Arbeit und Beschäftigung MTE nicht nur als Auftraggebener Abnehmer im Rahmen einer Zuliefererkette im Falle der zwei betroffenen Fazendas, sondern als „tatsächlicher Arbeitgeber“ der Arbeiter:innen benannt, die aus den sklavenähnlichen Bedingungen auf den zwei Reisfarmen in Uruguaiana befreit wurden. Die Behörde wies darauf hin, dass das Unternehmen „die absolute Kontrolle und das Management über alles, was auf der Plantage geschah, einschließlich der Ausbildung und des Einsatzes der geretteten Arbeiter“ hatte.

Die Bundesstaatsanwaltschaft für Arbeit und das MTE hatte den Namen des Unternehmens zunächst nicht bekannt gegeben, um die Ermittlungen nicht zu behindern, aber da Medienberichte bereits früh den Namen des Unternehmens mit Quellen bestätigte, sah sich infolge des behördlichen und medialen Drucks BASF schnell gezwungen, sich im medialen Diskurs um den Fall weniger auf juristische Spitzfindigkeiten vor Gericht einzulassen, sondern sich mit den Behörden auf die Unterzeichnung einer aussergerichtlichen Einigung zu verständigen, was laut Berichten im Mai dann geschah.

Sklavenarbeitsähnliche Zwangsverhältnisse in Brasilien

In Brasilien gibt es bis heute noch immer Fälle von Sklavenarbeit oder sklavenarbeitsähnlichen Verhältnissen. Laut den neuesten, sich auf das Jahr 2021 beziehenden Daten des Global Slavery Index der Walk Free Foundation arbeiten weltweit 49,6 Millionen Menschen in Sklavenarbeit oder sklavenarbeitsähnlichen Zwangsverhältnissen. Der Walk Free Foundation zufolge sollen das in Brasilien im Jahr 2021 bis zu 1,1 Millionen Menschen gewesen sein. Dies entspricht der Berechnung der Walk Free Foundation zufolge einer Prävalenz von 5 Personen je statistischen 1.000 Einwohner:innen. Die Walk Free Foundation geht in ihren Berechnungen sogar davon aus, dass zu dem Kreis der von sklavenarbeitsähnlichen Zwangsverhältnissen potentiell Gefährdeten bis zu 47 von 100 Einwohner:innen des Landes zählen könnten. Zum Vergleich: Für Deutschland errechnet die Walk Free Foundation einen Vulnerability-Wert von 10,7 von 100.

All dies ist in Brasilien kein Geheimnis. Einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahre 2015 zufolge gaben 70 Prozent der Brasilianer.innen an, sie wüssten, dass in ihrem Land Sklavenarbeit existiert. 17 Prozent verneinten die Existenz von Sklavenarbeit, 12 Prozent sagten, darüber keine Kenntnisse zu haben und 1 Prozent der landesweit 1.200 Befragten tätigte keine Aussage.

27 Prozent der damals Befragten erklärten allerdings, nicht genau definieren zu können, was Sklavenarbeit ist. Auffällig ist bei diesem Wert dem Investigativjournalisten von Repórter Brasil, Leonardo Sakamoto, zufolge die Tatsache, dass es gerade die am stärksten gefährdeten Gruppen sind, bei denen die Unkenntnis über Sklavenarbeit höher ist: Bei Menschen der sogenannten (an Einkommen bemessenen) Klassen D und E sagten 31 Prozent aus, sie wüssten nicht, was Sklavenarbeit definiert, verglichen mit den Klassen A und B (20 Prozent). Bei den befragten Personen, die im Norden des Landes, also im Großgebiet von Amazonien, dem historischen Schwerpunkt der Sklavereifälle, leben, gaben 40 Prozent an, Sklaverei nicht definieren zu können. Bei den befragten Menschen mit wenig oder keiner Schulbildung lag dieser Wert bei 41 Prozent. Paradoxerweise gaben von den 17 Prozent, die in der ersten Frage angaben, dass dieses Problem nicht mehr existieren würde, 60 Prozent an, dass sie nicht wüssten, was Sklavenarbeit ist. Die erste spontane Antwort bei der Umfrage, was unter Sklavenarbeit falle, beantworteten in der Umfrage 24 Prozent der Befragten, dass Bezahlung unter dem, was als fair angesehen wird, als Sklavenarbeit zu bezeichnen sei. Unfaire Bezahlung aber ist nicht eines der Kriterien, was die brasilianische Gesetzgebung als Sklavenarbeit definiert. Diese und weitere Antworten besagter Umfrage, wie z. B. die auf die Nichteinhaltung der Sozialversicherungsvorschriften, zeigten, so Sakamoto, dass die Bevölkerung zu einem Großteil unter Sklavenarbeit etwas anderes versteht als das, was im Gesetz vorgesehen ist.

Die brasilianische Gesetzgebung ist in Fällen von sklavereiähnlicher Zwangsarbeit eindeutig: Der Straftatbestand der Ausbeutung von Menschen über Sklavenarbeit oder sklavenarbeitsähnliche Verhältnisse ist in Artikel 149 des brasilianischen Gesetzbuches definiert. Mindestens eines der folgenden Kriterien muss erfüllt sein, um von Sklavenarbeit oder sklavenarbeitsähnlicher Zwangsarbeit zu sprechen: (1) Zwangsarbeit, (2) ein Arbeitspensum, das die Menschen überanstrengt, (3) Lohnsklaverei, (4) menschenunwürdige Arbeitsbedingungen.

In zuvor erwähnter Studie aus dem Jahre 2015 wiesen in der Befragung auf die vier genannten Elemente der brasilianischen Gesetzgebung in Bezug auf Sklavenarbeit die Befragten wie folgt hin: Schuldknechtschaft erkannten 19 Prozent der Befragten als Sklavenarbeit definierendes Element, erniedrigende Arbeitsbedingungen erkannten 8 Prozent, Zwangsarbeit 7 Prozent und erschöpfende Arbeitszeiten 1 Prozent. Da also grundlegende Elemente, die sklavenarbeitsähnliche Zwangsverhältnisse per Strafkodex ausmachen, in der Bevölkerung nicht oder noch zu unzureichend bekannt sind, kann man davon ausgehen, dass ein nicht geringer Teil dieser Verbrechen unbemerkt bleiben, auch weil von den Betroffenen und Risikogruppen dieser Straftatbestand oft gar nicht als ein solcher wahrgenommen wird.

Sklavenarbeitsähnliche Zwangsverhältnisse und Straffreiheit für die Täter
Im November 2023 fand in Brasília im brasilianischen Abgeordnetenhaus ein Seminar zur Bekämpfung von Sklavenarbeit statt. Den anwesenden Spezialist:innen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft zufolge ist einer der wesentlichen Faktoren, der die Bekämpfung von Sklavenarbeit im Lande verhindert: die anhaltende Straflosigkeit der Täter. Der Padre Ricardo Rezende (Leser:innen von KoBra vor allem bekannt durch Ricardos langjährige gemeinsame Zusammenarbeit mit der Brasilien Initiative Freiburg zur Aufdeckung der sklavenarbeitsähnlichen Zwangsverhältnisse bei der Volkswagen-Farm Rio Cristalino in Amazonien ab Mitte der 1980er Jahre bis zur bis heute anhaltenden Weigerung des VW-Konzerns, sich seiner historischen Verantwortung in dem Falle zu stellen, erklärte auf dem Seminar in Brasília, dass bis heute in Brasilien noch nie ein für sklavenarbeitsähnliche Zwangsverhältnisse Verantwortlicher in Haft kam – und dies, obwohl es seit dem Jahre 1995 allein mehr als 63.000 erwiesene Fälle von Befreiungen aus sklavenarbeitsähnlichen Zwangsverhältnissen gab. Der auf dem Seminar anwesende Vertreter des Arbeitsministeriums aus dem Bundesstaat Rio Grande do Sul, Vanius Corte, erklärte dazu, dass die Verantwortlichen „zu geringen Strafzahlungen verurteilt werden, aber eben nicht strafrechtlich belangt werden“, und selbst in den wenigen Fällen strafrechtlicher Verfolgung, erfolge eine Inhaftsetzung „sehr selten“. Vanius Corte erklärte zudem, dass dergestalt sklavenarbeitsähnliche Zwangsverhältnisse eben ein „sehr lukratives Geschäft“ für die Täter seien. Eine der Maßnahmen, um der strafrechtlich offenbar ziemlich gefahrlosen, aber sehr gewinnträchtigen Sklavenarbeit zu begegnen, könnte laut den auf dem Seminar anwesenden Spezialist:innen einerseits die Verabschiedung der seit 2014 im brasilianischen Nationalkongress debattierten Verfassungsänderung EC 81 sein, die die Enteignung von Grundstücken und Immobilien vorsieht, auf denen sklavenarbeitsähnliche Zwangsverhältnisse gerichtlich nachgewiesen wurden (ein Straftatbestand, der dann vor allem zum verfassungsmäßigen Zwecke der Agrarreform enteignet werden könnte), andererseits die legislative Vorantreibung eines Lieferkettensorgfaltsgesetzes, wie es die Parteien PT und PSOL derzeit vorschlagen.

Vor-Ort-Kontrollen zur Bekämpfung von sklavenarbeitsähnlichen Zwangsverhältnissen
Um sklavenarbeitsähnliche Zwangsverhältnisse aufzudecken, bedarf es neben gesellschaftlicher Aufklärung und einem Ende der Straffreiheit genügend Vor-Ort-Kontrollen. Denn trotz des Anstiegs der im Jahre 2023 aufgedeckten Fälle zeigen die eingangs erwähnten jüngsten Daten von 2023, dass Brasilien in letzter Zeit Rückschritte gemacht hat, denn die Zahl der Arbeitsinspektor:innen befindet sich auf dem niedrigsten Stand seit 30 Jahren. „Selbst [dieses Problem] war zu erwarten, denn in den letzten vier oder fünf Jahren gab es keine direkten Maßnahmen zur Bekämpfung der Sklavenarbeit. So viele Hilfegesuche von Arbeitern, die sich in einer der Sklavenarbeit ähnlichen Situation befanden, wurden zurückgehalten. Deshalb ist es für uns keine Überraschung, aber wir sehen es als einen Mangel. Denn wir haben nur wenige Prüfer des Arbeitsministeriums, die Inspektionen durchführen“, sagte Roque Renato Pattussi, Projektkoordinator des Centro de Apoio Pastoral do Migrante, gegenüber TV Brasil.

Das Ministerium für Arbeit und Beschäftigung räumte diesen Personalmangel gegenüber TV Brasil ein. „Wir haben knapp 2.000 aktive Arbeitsinspektoren. Das ist die niedrigste Zahl seit der Schaffung des Berufs im Jahr 1994. Dennoch ist es uns gelungen, im Jahr 2023 die höchste Zahl von Arbeitsinspektionen durchzuführen“, ließ das Ministerium gegenüber TV Brasil verlauten. Das im Dezember 2023 für das Haushaltsjahr 2024 verabschiedete Haushaltsplangesetz definiert Maßnahmen zur Bekämpfung sklavenarbeitsähnlicher Zwangsverhältnisse durch Arbeitsinspektionen als eine der im Gesetzestext erwähnten kommenden prioritären Aufgaben. Dies wäre dringend notwendig.

// Christian Russau