Thomas Fatheuer nahm Ende Juli am Panamazonischen Sozialforum in Brasilien teil: In Hinblick auf die Wahlen schwanken die Menschen in Amazonien zwischen Hoffnung und Furcht.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Webseite der Heinrich-Böll-Stiftung. Mit freundlicher Genehmigung übernommen von: FDCL.

Von Thomas Fatheuer

Ende Juli trafen sich in der Amazonasregion 40.000 Vertreter*innen der brasilianischen Zivilgesellschaft. In Belém, Pará, Brasilien fand ihr erstes großes Treffen nach Beginn der Covid-Pandemie statt: das Panamazonische Sozialforum. Es war ein besonderes und wichtiges Treffen drei Monate vor den Wahlen. Die Mobilisierung der Zivilgesellschaft entscheidet auch über den Ausgang der Wahl. In Belém zeigten sich Protest und Widerstand gegen die Regierung Bolsonaro erstmals wieder in voller Wucht.

Es war kein Zufall, dass sich die Menschen in Belém versammelten, der einzigen brasilianischen Landeshauptstadt mit einem linken Bürgermeister. Edmilson Rodrigues der Partido Socialismo e Liberdade (PSOL), eine Abspaltung der PT, sicherte sich bei den Kommunalwahlen in 2020 die Mehrheit. Seine Partei unterstützt bei den nun anstehenden Wahlen im Oktober Lula da Silvas Kandidatur. Der linken Opposition ist es in den mehr als 3,5 Jahren der Regierung Bolsonaro nur ansatzweise gelungen, gegen seine verbrecherische Politik zu mobilisieren. Dies lag an der Schwäche wichtiger Akteure, wie den Gewerkschaften, aber auch die Pandemie lähmte die Opposition. Gegen die verantwortungslose Covid-19-Politik des Präsidenten forderte die linke Opposition strenge Isolierung und das Maskentragen und verzichtete auf Kundgebungen und Demonstrationen. Diese Herangehensweise war nicht unumstritten, setzte sich aber letztlich durch.

Es war auch kein Zufall, dass das Forum in der Amazonasregion stattfand. Der Anstieg der Entwaldung und die Zerstörung der Lebensräume indigener Völker ist das sichtbarste und fürchterlichste Ergebnis der Regierung Bolsonaro. Die aktuellen Entwaldungszahlen wurden im Juli veröffentlicht: die Entwaldung steigt weiter an, nachdem sie schon im Vorjahr neue Spitzenwerte erreicht hatte. Das Instituto Nacional de Pesquisa Espaciais (INPE) berechnete einen Anstieg um 17% im ersten Halbjahr 2022 gegenüber demselben Zeitraum im Vorjahr [https://canaltech.com.br/meio-ambiente/brasil-bate-recorde-de-desmatame…]. Es sind die Indigenen, die die sichtbarsten Zeichen gegen die aktuelle Regierung setzten und in den letzten Monaten zu Protesten u.a. in der Hauptstadt Brasília mobilisierten. Auch sie sind Ende Juli auf dem Forum in Belém laut und präsent.

Die Stimmung vor Ort

Tatsächlich ist es nicht möglich, die Stimmen und Stimmungen auf dem Panamazonischen Sozialforum auf einen Nenner zu bringen, es ist ein Schwanken zwischen Hoffnung und Furcht: „Für mich ist dieses Forum eine große Ermutigung“ sagt Alessandra, die an der Universität von Pará studiert, aber auch einen Job bei der Umweltbehörde des Bundesstaates hat. „Ich sehe täglich die Zerstörung und spüre unsere Ohnmacht. Es tut gut, so viele Menschen zu sehen, die für Veränderungen eintreten.“ Sie ist eine der vielen Stimmen, die das Forum als einen Moment von Hoffnung und Aufbruch sehen. Mariana sieht das jedoch ganz anders. Sie ist aus dem Bundestaat Roraima, der im Norden an Venezuela und Guyana grenzt, angereist. Roraima ist der einzige brasilianische Bundesstaat in dem indigene Gebiete den größten Teil der Fläche ausmachen. Dies hat in den letzten Jahren aber auch viel Streit und Konflikt hervorgerufen. Die juristische Anerkennung des indigenen Gebietes Raposa Serra do Sol beispielsweise hat die Bevölkerung in Roraima stark gespalten. Mariana ist Aktivistin in der Bewegung schwarzer Frauen. „Nein, es ist verfrüht von Aufbruch zu sprechen und das Forum als ein Symbol des Widerstandes zu sehen. Unsere Niederlagen waren zu groß, zu einschneidend. Und dann kam noch die Lähmung durch die Pandemie. Ich sehe, wie mächtig die Bolsonaro-Anhänger und Anhängerinnen in meinen Bundesstaat sind. Zwar macht es mir Mut, dass Lula [da Silva] die Umfragen anführt, aber die Wahl ist noch lange nicht gewonnen. Und was passiert nach der Wahl?“.

Sanft auf die Erde treten

„Sanft auf die Erde treten“ ist der Titel eines Films, der auf dem Forum mit viel Beifall gezeigt wurde. Der Titel ist ein Ausspruch von Ailton Krenak, brasilianischer Intellektueller der indigenen Bewegung dessen Bücher, nicht nur in Brasilien, zu Bestsellern geworden sind. Der Film „Sanft auf die Erden treten“ resümiert auf poetische Weise die Leitthemen des Forums: Widerstand gegen zerstörerische Großprojekte, gegen die Zerstörung indigener Gebiete durch Bergbau und Goldgräberei oder Entwaldung.  Die Politik der Regierung Bolsonaros missachtet das Verständnis „leiser Schritten“ der Entwicklung der Bewohner*innen und zerstört rücksichtslos Amazonien.

„Sanft auf die Erde“ treten ist auch ein gutes Motto für die vielen Alternativen, die in Workshops auf dem Forum diskutiert wurden. Die anwesende Vielfalt traditioneller Gemeinschaften u.a. Kautschukzapfer*innen, traditionelle Fischer*innen oder auch den Nuss-Sammlerinnen – zeigte, wie das Leben und Wirtschaften in Amazonien aber auch in anderen Ökosystemen ohne Zerstörung möglich ist. Trotz aller Rückschläge und Bedrohungen haben sich die Gebiete der traditionellen Gemeinschaften und die indigenen Territorien als wirksame Bremse gegen Entwaldung erwiesen. „Sanft auf die Erde treten“ ist also keine Utopie, sondern Realität in vielen Teilen Amazoniens. Stärkung und Fortbestehen dieser Realitäten hängen davon ab, dass die Rechte der traditionellen Gemeinschaften und indigenen Völker besser geschützt werden.

„Die Waffen liegen auf dem Tisch“

Aber auch eine weitere Seite der brasilianischen Realität war in Belém präsent: „Die Waffen liegen auf dem Tisch“ rief Jurema Werneck auf dem Forum aus. Sie ist Generalsekretärin von Amnesty International Brasilien und bekannte Aktivistin der Bewegung schwarzer Frauen. Sie meint damit, dass im Wahlkampf Bolsonaro und seine Anhänger tatsächlich zunehmend mit Waffen posieren und sich ihrer rühmen. Neben der besorgten Frage Vieler, wie sich die Streitkräfte und die Militärpolizei bei einem Wahlsieg Lula da Silvas im Herbst 2022 verhalten würden, rückt die Zunahme von Waffen in der Hand einfacher Bürger*innen immer mehr in den Fokus. Ein Blick in die Statistiken zeigt, diese Sorge ist nicht unberechtigt: Die Gesetzgebung unter Bolsonaro hat den Zugang zu Waffen für Sportschütz*innen und Mitglieder von Jagdvereinen erleichtert (in Brasilien wird diese Gruppe als CAC abgekürzt und steht für caçador, atirador desportivo und colecionador). Die Anzahl der Mitglieder ist von 117.000 im Jahre 2018 auf 673.818 Bewaffnete angestiegen. Deutlich mehr als die Streitkräfte mit 360.000 Bewaffneten. Sie sind jetzt die größte bewaffnete Gruppe im Land, ohne einheitliche Organisation oder geordnete Hierarchien. Beobachter*innen gehen davon aus, dass die CACs in ihrer überwältigenden Mehrheit Anhänger*innen Bolsonaros sind. Bolsonaro ist viel mehr als ein Hassprediger, er bewaffnet den Hass.

Die linke Opposition in Brasilien, das war auf dem Forum deutlich zu merken, schwankt zwischen Optimismus und Furcht. Optimismus für den Wahlausgang. Knapp drei Monate vor den Wahlen sind die Umfragen erstaunlich stabil: Präsidentschaftskandidat Lula [da Silva] führt mit deutlichem Vorsprung vor Bolsonaro und hat Aussichten bereits im ersten Wahlgang zu gewinnen. Furcht vor den bleibenden großen Fragen: wird Bolsonaro einen Wahlsieg Lulas akzeptieren? Was kann und wird er unternehmen um den Amtsantritt von Lula zu verhindern? Tatsächlich hat die Opposition im Land keine Antwort auf den Militarismus Bolsonaros. Sie kann nur hoffen, dass Streitkräfte und Militärpolizei in ihrer Mehrheit die Verfassung respektieren und möglichen Anweisungen Bolsonaros nicht folgen.

Zwischen „Sanft auf die Erde treten“ und „Die Waffen liegen auf dem Tisch“ liegt ein tiefer und breiter Abgrund. Es sind diese Pole, die weiterhin die Stimmungslage in Brasilien charakterisiere.