Die Interamerikanische Menschenrechtskommission IACHR und das Büro des Hochkommissars für Menschenrechte der Vereinten Nationen für Südamerika äußerten in einer am 17. Oktober veröffentlichten gemeinsamen Erklärung ihre tiefsten Besorgnisse über die zunehmende Gewalt gegen indigene Völker in Brasilien, insbesondere in den Bundesstaaten Bahia (siehe die Meldung auf Portugiesisch bei CIMI), Paraná (siehe die Meldung auf Portugiesisch bei CIMI) und Mato Grosso do Sul (siehe die Meldung auf Portugiesisch bei CIMI). In den letzten Monaten kam es vor allem in den drei genannten Bundesstaaten zu gewaltsamen Angriffen auf indigene Gemeinschaften, darunter auch Übergriffe von privaten Akteuren und Polizeikräften, die zur Zwangsvertreibung von Gemeinschaften und zum tragischen Tod mehrerer Mitglieder von Gemeinschaften führten, die ihr Land verteidigten. Die gemeinsame Erklärung von IACHR und dem Hochkommissariat erwähnt dazu explizit die Fälle des Anführers des Pataxó Hã-Hã-Hãe-Volkes, Lucas Santos de Oliveira, der im Dezember 2023 getötet wurde, und von Maria de Fátima Muniz de Andrade, bekannt als Nega Pataxó, die im Januar dieses Jahres ermordet wurde. Am 18. September dieses Jahres wurde Neri Ramos da Silva, ein junger indigener Mann vom Volk der Guaraní Kaiowá, bei dem Versuch getötet, Land zurückzufordern, das zuvor für seine Gemeinschaft abgegrenzt worden war, aber immer noch von privaten Interessen angefochten wird. Auch dieser Fall wurde in der gemeinsamen Erklärung explizit erwähnt.

Diese Welle der Gewalt werde, so IACHR und das Hochkommissariat, durch die nur langsamen Fortschritte bei der Demarkierung von indigenem Land und die anhaltende Rechtsunsicherheit noch verschärft. Die Situation habe sich zudem seit der Verabschiedung des Gesetzes Nr. 14.701 durch die Abgeordnetenkammer im Oktober 2023 verschlechtert. Dieses Gesetz Nr. 14.701 – verabschiedet durch beide Kammern des brasilianischen Nationalkongresses (Abgeordnetenhaus und Senat) und vom Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva in Teilen mit Vetos belegt, die jedoch hinterher vom Nationalkongress wieder abgeschmettert wurden, so dass der Fall der Rechtsgültigkeit derzeit vom Obersten Gerichthof geprüft werden muss – ist eine direkte Reaktion des Nationalkongresses auf das Urteil des Obersten Gerichtshofes vom September 2023, welches die sogenannte Stichtagsregelung „Marco Temporal“ für verfassungswidrig erklärte. Das Gesetz Nr. 14.701 soll laut Kongress die These der Stichtagsregelung „Marco Temporal“ endgültig etablieren. Die Stichtagsregelung besagt, dass die territorialen Ansprüche der Indigenen nur auf solche Ländereien beschränkt bleibt, die vor der Verabschiedung der Bundesverfassung im Jahr 1988 von diesen bereits besetzt waren. Kritiker:innen sagen, dass damit 500 Jahre Landraub einmal mehr legalisiert werden sollen.

Die IACHR und die UN-Menschenrechtskommission betonen in ihrer Erklärung, dass indigene Völker nach dem interamerikanischen und universellen Menschenrechtsrahmen das Recht auf besonderen Schutz ihrer 1) physischen, 2) psychischen und 3) kulturellen Integrität haben, der es ihnen ermöglicht, frei von Gewalt, frei von Diskriminierung und frei von Ausbeutung zu leben. Dieses Recht umfasst den Schutz ihrer Kultur, ihres Territoriums und ihrer Selbstbestimmung, die für ihre Identität und ihr Wohlergehen unerlässlich sind. Dementsprechend müsse Brasilien, so die Erklärung von IACHR und dem Hochkommissariat, sofortige und wirksame Maßnahmen ergreifen, um die die Integrität der Indigenen bedrohenden Maßnahmen wie auch das Vorgehen Dritter abzustellen bzw. Einhalt zu gebieten, unabhängig davon, ob sie von Dritten oder staatlichen Akteuren verübt werden. Außerdem müsse der Staat Schutzmaßnahmen für indigene Gemeinschaften ergreifen, die unmittelbar bedroht sind.

Schließlich unterstreichen die Interamerikanische Menschenrechtskommission und die UN-Menschenrechtskommission die tiefe Verbundenheit der indigenen Völker mit ihren Territorien und erinnern die Staaten an ihre Pflicht, das Recht auf kollektives Eigentum zu schützen, wie es in der Amerikanischen Erklärung über die Rechte der indigenen Völker bekräftigt wird. In diesem Zusammenhang fordern die beiden Institutionen den brasilianischen Staat in ihrer Erklärung auf, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um die Demarkierung und Titulierung von indigenem Land zu gewährleisten und ihr Recht auf kollektives Eigentum zu wahren.

Das UN-Hochkomissariat für Menschenrechte fördert und schützt gemäß dem von der Generalversammlung in ihrer Resolution 48/141 erteilten Mandat den Genuss und die volle Verwirklichung aller Rechte, die in der Charta der Vereinten Nationen und in internationalen Menschenrechtsgesetzen und -verträgen verankert sind, für alle Menschen. Die IACHR ist ein autonomes Hauptorgan der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) mit einem Mandat, das in der OAS-Charta und der Amerikanischen Menschenrechtskonvention festgelegt ist. Die Kommission hat die Aufgabe, die Einhaltung und den Schutz der Menschenrechte in der gesamten Region zu fördern und dient der OAS in diesem Bereich als beratendes Organ. Die IACHR besteht aus sieben unabhängigen Mitgliedern, die von der Generalversammlung der OAS gewählt werden und in persönlicher Eigenschaft und nicht als Vertreter:in ihrer Herkunfts- oder Wohnsitzländer tätig sind.

Das Problem der Gewalt gegen Indigene ist nicht neu. Der Indigenenmissionsrat CIMI erstellt jährlich einen umfassenden Bericht zu diesem Thema. Doch die Gewalt hält weiter an, und aktuell bilden sich in Teilen des brasilianischen Agrobusiness’ offensichtlich neue paramalitärische Tendenzen heraus. Die Gruppe „Invasão Zero“ wurde im Mai 2023 in Bahia gegründet. Die Fazendeiros schlossen sich zusammen, um eine Landbesetzung durch die Landlosenbewegung MST zu verhindern. Die Landlosenbewegung MST ist mit ihrem Kampf um Agrarreform in einem der Länder mit der höchsten Landkonzentration bei Latifundien dabei eine der Hauptzielscheiben der Aktionen der Bewegung „Invasão Zero“. Und in den sich in den vergangenen Jahren vermehrt in ihrem Kampf um Rückgabe ihrer traditionellen Gebiete mobilisierenden Indigenen Völker Brasiliens sieht die Bewegung „Invasão Zero“ ihren zweiten großen Widersacher.

Nach Angaben des Gründers der Gruppe, dem Fazendeiro Luiz Uaquim, wurden bis Mai 2023 zunächst 16 regionale Zentren eingerichtet, die damals bereits 220 Städte abdeckten. „Die Verfassung gibt es in Bahia nicht. Es wird auch niemand für das Eindringen in Eigentum verhaftet. Also mussten wir reagieren und uns selbst organisieren, um die Eindringlinge aus eigener Kraft zu vertreiben“, so Uaquim anlässlich seines Besuchs in Brasília wenige Tage nach Gründung der Fazendeiro-Bewegung, wo er prompt politische Unterstützung des Bundesabgeordneten Luciano Zucco von der rechtsextremen Partei Republikanos erhielt. Zucco war im vergangenen Jahr Vorsitzender der parlamentarischen Untersuchungskomission CPI zur Landlosenbewegung MST, deren erklärtes Ziel es war, der MST Verfassungsfeindlichkeit und illegale Finanzierungen nachzuweisen. Die CPI konnte diesen Nachweis nicht erbringen und endete ohne Abschlussbericht.

Doch die Bewegung „Invasão Zero“ ficht das nicht an, es wurden weitere gleichnamige Gruppen in mittlerweile neun Bundesstaaten gegründet und die Gruppe soll 5.000 Mitglieder haben.

Ende Oktober 2023 gründeten Bundesabgeordnete unter Führung von Zucco in Brasília – in Anwesenheit des rechtsextremen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro und seines Ex-Umweltministers Ricardo Salles sowie der Ex-Landwirtschaftsministerin Tereza Cristina – die parteiübergreifende Fraktion „Invasão Zero“ im Parlament. Dies geschah in den Räumen der übermächtigen Parlamentsfraktion der Frente Parlamentar Agropecuária FPA. Die FPA stellt derzeit 300 der 513 Abgeordneten im brasilianischen Abgeordnetenhaus, und in der zweiten Kammer des Nationalkongresses, dem Senat, zählt die FPA nach eigenen Angaben 47 der 81 Senator:innen. Diese agrobusinessfreundlichen ruralistas stellen somit derzeit die mächtigste parteiübergreifende Fraktion in den zwei Kammern des Nationalkongress dar und kämpfen dort – ohne jedwede politische Camouflage – gegen die Landrechte der Landlosen, der Indigenen und weiterer traditioneller Völker und Gemeinschaften. Es ist diese Fraktion, die im rechtsdominierten Kongress schamlos indigenenfeindliche Politik durch Gesetze wie zur Stichtagsregelung „Marco temporal“ oder zum Giftpaket zur hemmungslosen Freigabe von Agrargiften vorantreibt – ganz im Sinne des auf Profit fixierten Agrobusiness.

// Christian Russau