Droht ein Putsch? Foto: christian russau

Thomas Fatheuer gewährt Einblicke in die politische Situation kurz vor den Präsidentschaftswahlen in Brasilien. Die Wähler*innen entscheiden im Oktober auch über die Zukunft der Demokratie im Land. Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Webseite der Heinrich-Böll-Stiftung. Mit freundlicher Genehmigung übernommen von: FDCL.

23.05.2022 | von Thomas Fatheuer

Im Oktober 2022 wählt Brasilien seinen Präsidenten – bisher liegen nur männliche Kandidaten aussichtsreich im Rennen. Alles deutet auf ein Duell zwischen Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (Lula) und dem Amtsinhaber Jair Bolsonaro hin. Die Brasilianer*innen entscheiden nicht nur darüber, wer in den nächsten vier Jahren Brasilien regieren wird, sondern auch über die Zukunft der Demokratie im Land. Denn nicht nur der Amazonaswald dürfte eine weitere Amtszeit von Bolsonaros kaum überleben, auch die demokratischen Institutionen geraten zunehmend unter den Beschuss des rechtsradikalen Präsidenten.

Aber die Chancen für einen Wandel in Brasilien stehen gut, zumindest wenn die demokratischen Spielregeln eingehalten werden. Lula führt stabil die Umfragen an. Er liegt für den ersten Wahlgang am 02. Oktober mit Werten um die 40% deutlich vor Bolsonaro, dessen Umfragewerte bei 30% stagnieren. Zwar konnte Bolsonaro in den letzten Monaten die Differenz zu Lula verringern, aber dieser Prozess scheint vorerst gestoppt, die letzte Umfrage sah Lula sogar mit 44% wieder deutlicher vorne.

Mit diesem relativ stabilen Szenario haben sich auch alle Hoffnungen und Spekulationen auf einen „dritten Weg“ erledigt, eine Art Mittelweg für den sich weitere Kandidaten aufgestellt haben. Diese dümpeln jedoch im einstelligen Bereich vor sich hin. Der Ex-Bundesrichter Sérgio Moro, der großen Anteil an der Verurteilung Lulas wegen angeblicher Korruption hatte, war dabei der größte Hoffnungsträger des von Bolsonaro enttäuschten rechten Lagers. Aber obwohl Moro von allem möglichen alternativen Kandidat*innen die besten Umfragewerte hatte, musste er inzwischen seine Ambitionen begraben. Er fand keine Partei, die ihn ausreichend unterstützte.

Tatsächlich konzentrieren sich nun allen Hoffnungen auf Lula. Ende 2019 wurde er aus dem Gefängnis entlassen und alle Prozesse gegen ihn annulliert, weil die Justiz schwere Fehler begangen hatte und parteiische Ermittlungen nachgewiesen werden konnten. Seit dem Wahlsieg Bolsonaros ist es weder dem bürgerlichen noch dem linken Lager gelungen, eine Alternative zu Lula und Bolsonaro aufzubauen. Es führt also kein Weg an Lula vorbei. Die Befürchtungen, dass gerade Bolsonaro von einer solchen Polarisierung profitieren könne und nur als Gegenkandidat zu Lula überhaupt eine Chance habe, die Wahlen zu gewinnen, sind inzwischen als Argument hinfällig geworden. Die Umfragen zeigen, dass Lula der beste Kandidat ist, um Bolsonaro zu schlagen.

Die entscheidende Herausforderung für Lula und seine Partei, die Arbeiterpartei PT, war und ist es aber, einen reinen Lagerwahlkampf zu vermeiden und ein Bündnis zu ermöglichen, das über die üblichen Verdächtigen hinausgeht. Es gelang, ein Wahlbündnis mit der größten Partei des (mehr oder weniger) linken Spektrums, der PSB (Partido Socialista Brasileiro) sowie fünf weiteren kleinen Parteien, darunter auch die Grüne Partei Brasiliens, zu schmieden. Der entscheidende und überraschende Schachzug gelangen Lula und der PT aber mit der Wahl des Kandidaten für das Amt seines Vizepräsidenten. Geraldo Alckmin war in den letzten Jahrzehnten der wichtigste Politiker der PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira), dem historischen Widersacher der PT. Präsidentschaftswahlen waren in Brasilien für lange Zeit ein Duell zwischen den Kandidat*innen der PT und der PSDB. 2006 unterlag Alckmin beispielsweise Lula bei der Stichwahl der Präsidentschaftswahlen. Alckmin wechselte im März diesen Jahres nach über 30 Jahren PSDB zur PSB, um nun als Vize seines ehemaligen Erzrivalen zu kandidieren.

Alckmin ist jeglicher linker Sympathien unverdächtig und deshalb wurde seine Aufstellung von Lula in Teilen des linken Lagers missbilligt. Aber Alckmins Kandidatur ist vor allem ein Signal an das bürgerliche Lager: Lula‘s Bündnis umfasst ein weites politisches Spektrum, niemand – außer der Familie Bolsonaros und dem härtesten Kern seiner Anhänger – muss vor einer Präsidentschaft Lulas Angst haben.

Die Regierung Bolsonaro: eine Spur der Zerstörung

Die wichtigste Unterstützung für Lula aber kommt von Bolsonaro selbst und der katastrophalen Bilanz seiner Regierungszeit: Eine tödliche Coronapolitik, die Impfungen lange verzögerte, eine schwere Wirtschaftskrise und eine stark steigende Inflation haben die soziale Lage für große Teile der Bevölkerung drastisch verschlechtert. In Folge ist der Hunger nach Brasilien zurückgekehrt. Nach einer Erhebung des brasilianischen Statistikinstituts IBGE hat sich die Zahl der Brasilianer*innen, die sich in einer Situation der gravierender Ernährungsunsicherheit befinden, von 2014 bis 2019 auf 10,3 Millionen Menschen erhöht, ein Anstieg um drei Millionen. Eine neue Studie geht davon aus, dass in 2020 55,2% der brasilianischen Bevölkerung von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, d.h. 116,7 Mio. Menschen [Anmerk. d. Red. Ernährungsunsicherheit wird darin in drei Kategorien unterschieden: “mild, moderate and severe food insecurity“]. Von diesen 116,7 Mio. sind 19 Mio., also 9% der Gesamtbevölkerung, von Hunger betroffen [severe] und 11,5 Mio. Menschen ohne regelmäßigen und gesicherten Zugang zu Nahrung [moderate = 11,5% der Bevölkerung, mild insecurity betrifft 34,7%, ca. 73,5 Mio Menschen]. Dies ist ein Ergebnis des Aus für zahlreiche Sozialprogramme durch die Regierung Bolsonaro.

Mehr internationale Aufmerksamkeit hat die wieder ansteigende Zerstörung des Regenwaldes erregt. Sie ist ein bitterer „Erfolg“ der Politik Bolsonaros: Umweltbehörden wurden finanziell ausgehungert, Kontrollen eingestellt und insbesondere die illegale Goldgräberei systematisch begünstigt. In das Gebiet der Yanomami, eines der größten indigenen Gebiete Amazoniens, in dem 29.000 Indigene leben, sind 25.000 Golgräber*innen eingedrungen.

Gewalt gegen Indigene, Ausbreitung von Covid-19 sowie weitere Krankheiten, Naturzerstörung und die Vergiftung der Flüsse durch Quecksilber sind die unmittelbaren Konsequenzen dieser Invasionen, die auch in anderen indigenen Gebieten nun zur Realität gehören.

Die Liste der sozialen und ökologischen Verwüstungen durch die Regierung Bolsonaro ließe sich lange fortsetzen. Daher ist es nicht überraschend, dass Lula alle Umfragen anführt, sondern dass Bolsonaro weiterhin unterstützt wird von ca. 30% der Wähler*innen. Sein Wahlvolk kommt aus Teilen der ökonomischen Eliten, allen voran des Agrobusiness und profitiert von dem tief verwurzelten Konservativismus breiter Teile der Bevölkerung. Dies trifft insbesondere auf die evangelikalen („neopentekostalen“) Kirchen zu, zu denen sich inzwischen mehr als 30% der Brasilianer*innen bekennen. Bei ihnen punktet Bolsonaro durch Ablehnung von Abtreibung und öffentliche Ausfälle gegen die Rechte von LGBTIQ*. Umfragen zeigen, dass zwar keineswegs alle Evangelikalen für Bolsonaro stimmen wollen, aber er in dieser Gruppe am deutlichsten die Umfragen anführt. Die Zustimmung für Bolsonaro steigt auch mit zunehmenden Einkommen. Bei Teilen der Mittelschicht scheint die Angstkampagne und das Gespenst des Kommunismus, das gegen Lula und die PT beschworen wird, immer noch zu ziehen.

Bolsonaro hat trotz desaströser Bilanz durchaus noch Chancen, die Wahl für sich zu entscheiden.

Droht ein Putsch?

Bolsonaro verweigert im bisherigen Vorwahlkampf konsequent die Debatte um ökonomische und soziale Fragen. Seine Wahlkampfstrategie ist eine andere, nämlich Angst zu verbreiten. Seit Anfang Mai hat Bolsonaro die Angriffe auf die demokratischen Institutionen verstärkt, insbesondere gegen den Obersten Gerichtshof. Er sät wieder Zweifel an dem elektronischen Wahlverfahren und entfacht schon jetzt die Diskussion über mögliche Wahlfälschung und -manipulation. Damit ist die Gefahr eines Putsches in der brasilianischen Presse wieder omnipräsent. Bolsonaro bereitet das Terrain dafür vor, im Falle einer Wahlniederlage den demokratischen Prozess zu delegitimieren.

Dass alles erinnert an die Rhetorik von Donald Trump. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied. Bolsonaro hat die Unterstützung (weiter Teile) des Militärs und anderer bewaffneter Gruppen (Sicherheitsdienste, Milizen). Keine Gruppe hat so von der Regierung Bolsonaros profitiert wie die Militärs. 6.000 Militärs haben gutbezahlte Posten in der Regierung bekommen, mehr als in den Zeiten der Militärdiktatur. Die Gehälter von Militärangehörigen wurden angehoben und in den Wahlkampf wird Bolsonaro voraussichtlich mit Braga Netto, einem loyalen Militär, als Vize gehen. Zudem rühmt sich Bolsonaro, dass unter seiner Regierung der Zugang zu Waffen erleichtert wurde.

Das Jahr 2022 bringt große Hoffnungen und Gefahren für Brasilien. Es ist auch Aufgabe der internationalen Gemeinschaft, klar zu machen, dass die Nichtanerkennung einer demokratischen Wahl für Brasilien schwere Konsequenzen haben würde.

// Thomas Fatheuer

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Quelle: https://www.boell.de/de/2022/05/18/wahlen-brasilien-schicksalsjahr